■ Soziale Sicherung à la Schröder und Biedenkopf: Haben oder Nichthaben
Mit neuen Arbeitsplätzen ist in den Industrienationen langfristig nicht zu rechnen. An dieser ob ihrer Nüchternheit so brutal daherkommenden Erkenntnis der beiden Ministerpräsidenten Biedenkopf und Schröder zerbirst, was bislang allen staatlichen Initiativen, allen Bündnissen für Arbeit, allen Maßnahmen zum Umbau des Sozialstaates eigen war – die Hoffnung, daß sich mit ihnen der augenblickliche Zustand bessern ließe, die Erwartung, daß Standortsicherung sich in Arbeitsplatzschaffung buchstabieren läßt, das Kalkül, daß aktueller Verzicht späteres Wohlergehen ermöglicht.
Was Schröder und Biedenkopf formulieren, ist der Abschied von der Triade Wachstum, Beschäftigung, Wohlstand. Jobless growth nennt sich der Prozeß, der des Kanzlers Landschaften zum Blühen bringt, und selbst um dieses Wachstums willen müssen die Lohnkosten gesenkt werden. Doch damit sinkt das Aufkommen für das soziale Sicherungssystem in dem Maße, wie die Nachfrage danach steigt. Auch wenn die versicherungsfremden Leistungen herausgerechnet werden, bleibt dies die Achillesferse des bismarckschen Systems der Sozialversicherung.
Wo das erforderliche Maß an Beschäftigung nicht mehr garantiert werden kann, muß aus dem gesellschaftlichen Wohlstand die soziale Sicherung finanziert werden. Für die Besserverdienenden lautet die Devise private Vorsorge. Die Vermögensbildung, speziell die Beteiligung am Produktivvermögen, wie Schröder und Biedenkopf vorschlagen, wird sich als das Modell der Überhauptverdienenden erweisen. Doch wie trägt der Habenichts, wie trägt die wachsende Zahl der Von-der-Hand-in-den-Mund-Lebenden eine Vorsorge?
Dort, wo in Schröders und Biedenkopfs Papier statt einer Antwort eine Lücke klafft, müßten Ausführungen zur bedarfsorientierten Grundsicherung stehen, müßten Überlegungen zu einer sozialen Staffelung der Rentenanwartschaften angestellt werden, müßte der Einbeziehung der Beamten und Freiberufler in die Finanzierung das Wort geredet werden, müßten die neuen finanziellen Grundlagen, auf welche die Sozialversicherung zu stellen sei, verortet werden. Entlastung des Faktors Arbeit, Belastung des Faktors Energie. Kein Wort davon in dem gemeinsamen Papier der beiden Ministerpräsidenten. Sein diskreter Charme besteht darin, daß es die Antworten ausklammert, bei denen der überparteiliche Konsens aufhört – bei denen die Debatte aber spannend werden könnte. Dieter Rulff
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