Bahrs Ostpolitik – Klarsicht und Blindheit

Eine neue Biographie Egon Bahrs wertet umfassend die Quellen aus, schreckt aber vor Kritik zurück. Bahrs Unfähigkeit, gesellschaftliche Dynamik zu begreifen, bleibt ausgeblendet. Dies meint  ■ Christian Semler

Es kommt selten vor in der Politik, daß weiträumig planender, operativer Verstand und diplomatisches Geschick in ein und derselben Person zusammentreffen. Henry Kissinger bietet in diesem Jahrhundert dafür ein Beispiel, Egon Bahr ein zweites. Kein Wunder, daß die beiden, nach anfänglichem Mißtrauen, sich so glänzend verstanden.

Die Ostpolitik, die von den späten 60er bis in die frühen 80er Jahre in der Bundesrepublik betrieben wurde, war im wesentlichen das Gedankenprodukt Bahrs. Er hat zudem, mit der Konzeption der „gemeinsamen Sicherheit“, das außenpolitische Denken Gorbatschows angeregt und damit – indirekt und gewiß unbeabsichtigt – zum Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums beigetragen.

Gleichzeitig setzte er als deutscher Chefunterhändler vom Moskauer Vertrag bis zum deutsch- deutschen Grundlagenvertrag die wichtigsten Elemente des Grand Design der Ostpolitik durch. Das war nur möglich, weil Bahr, anders als Kissinger, einen visionären, charismatischen Schirmherrn hatte, der seinen Ideen zum Durchbruch verhalf; der ihn schützte und in jeder prekären Lage verteidigte; dem er in unwandelbarer Loyalität verbunden blieb: seinen Meister und Freund Willy Brandt.

Das Leben eines solchen großen Paladins schreit nach politischer Biographie, allein – dieses Metier war und ist in Deutschland unterentwickelt. Andreas Vogtmeier hat jetzt eine Arbeit, seine Dissertation, publiziert, die um einen zentralen Aspekt der Bahrschen Politikerexistenz kreist – die deutsche Frage. Vogtmeier konnte erstmals das „Depositum Bahr“ im Archiv für soziale Demokratie auswerten, was ihn in die Lage versetzte, Notizen, Redeentwürfe und Planungsskizzen systematisch einzubeziehen. Er profitierte von der Kenntnis der Akten des SED-Politbüros, gelegentlich auch von sowjetischen Quellen. Dank des Wirkens einer schrecklichen Witwe stand ihm der Brandt-Nachlaß freilich nicht zur Verfügung. Aber das mindert nicht wesentlich den Wert der akribischen Wühlarbeit Vogtmeiers.

Eigentlich haben wir hier eine Studie über den Zusammenhang von Bahrs Gedanken. Das macht Stärke wie Schwäche des Versuchs aus. Ihm gelingt es, die innere Logik, die Architektur dieses Denkens zu rekonstruieren, vor allem den Zusammenhang von Entspannungspolitik und Deutschlandpolitik herauszuarbeiten. Er verteidigt Bahr überzeugend gegenüber dem Vorwurf, ein bornierter Nationalist gewesen zu sein, wie er auch die entgegengesetzte Anklage, Bahr habe gegenüber der Sowjetunion nationale Interessen verschleudert, zurückweist.

Den Status anerkennen, um ihn zu überwinden

Vogtmeier zeichnet präzise eine dialektische Gedankenfigur Bahrs nach, die Timothy Garton Ash einmal als den Judoka-Griff des Meisters bezeichnet hat: dem Angriff nachgeben, um, unter Ausnutzung des aggressiven Schwungs, den Gegner auf die Matte zu legen. Ins Politische übertragen, heißt das, den Status quo in Europa anerkennen, um ihn zu überwinden. Mit anderen Worten: vom sowjetischen Hegemonialsystem den äußeren Druck nehmen, um es innen- wie außenpolitisch auf den Weg der Reform zu bringen. Der vorletzte Schritt dieses Prozesses würde ein europäisches Sicherheitssystem sein, der letzte die neue deutsche Vereinigung.

Wehner träumte, wie das Häuflein der deutschen Maoisten auch, von der künftigen Einheit der deutschen Arbeiterbewegung – gegen Moskau und Washington – als Voraussetzung der staatlichen Einheit. Ganz anders Bahr. Er wußte, daß der berühmte Schlüssel zur Lösung der deutschen Frage im Kreml aufbewahrt war. Daher galt es für ihn, die Interessen der sowjetischen Nomenklatura mit dem deutschen Interesse nach Vereinigung, das Bahr einfach als naturwüchsig voraussetzte, in Übereinstimmung zu bringen. So geschah es letztlich auch.

Andreas Vogtmeier ist so fasziniert von der inneren Kohärenz des Bahrschen Gedankengebäudes, daß er dessen Risse übersieht oder zuzukitten versucht. Er konzediert, daß Bahr, ähnlich wie Kissinger, ein Kabinettspolitiker gewesen sei, ein Geheimniskrämer, der am liebsten sich selbst unter Verschluß gehalten hätte, einer, der fest daran glaubte, daß es wenige Männer seien, „die Geschichte machten“. Aber Vogtmeier spricht die einfache Wahrheit nicht aus, daß Bahr stets Etatist war, worin er sich mit der traditionellen Sozialdemokratie traf. Das aufrührerische Volk existierte bei dem Meisterstrategen nur als Störfaktor, der den Uhrwerksmechanismus der Entspannungspolitik durcheinanderbrachte.

Gesellschaftliche Dynamik hat Bahr nie einschätzen können, deshalb irrte er so fatal, als er nach der Unterdrückung der Solidarność von der unanfechtbaren Herrschaft seiner einzigen Ansprechpartner, der realsozialistischen Machthaber in Osteuropa, ausging. Bezeichnenderweise findet sich über diesen Zusammenhang der „polnischen Ereignisse“ mit der Bahrschen politischen Grundlinie bei Vogtmeier kein Sterbenswörtchen

Bahr glaubte Realist zu sein, verwechselte die Realität aber mit seinen von der gesellschaftlichen Entwicklung überholten Konstruktionen. Demagogisch hielt er seinen Kritikern aus der blockübergreifenden Friedensbewegung in den 80er Jahren vor, sie wollten vom sicheren westlichen Hafen aus die osteuropäischen Demokraten in den Aufstand treiben. Er verwies auf die gescheiterten Volksbewegungen von 1953, 1956, 1968. Aber der gedankliche Fehler lag nicht bei den antitotalitären Linken, sondern bei Bahr. Er verstand nicht das Projekt einer „sich selbst begrenzenden Revolution“ in Osteuropa, nicht die Idee eines gewaltlosen Übergangs in demokratische Verhältnisse. Ihm ging nicht auf, daß etwas, was einmal fruchtbar und nützlich gewesen war, das Prinzip „Wandel durch Annäherung“, sich jetzt als kontraproduktiv und schädlich erwies. Er, der Superrationalist, hat die traumatische Erfahrung des gescheiterten Arbeiteraufstands vom 17. Juni nie verarbeitet. Diesen Zusammenhang bügelt Andreas Vogtmeier weg. Daher der apologetische Grundzug seiner Arbeit.

Andreas Vogtmeier, „Egon Bahr und die deutsche Frage“, Bonn 1996, Verlag J.H.W. Dietz Nachfolger, 400 Seiten, 49,50 DM