: Norwegens großer Lauschangriff
Ein richterlicher Untersuchungsbericht enthüllt: Bis 1991 hörte der Geheimdienst Zehntausende Linke ab. Selbst elfjährige Kinder wurden registriert – Norwegen hat sein Watergate ■ Aus Oslo Reinhard Wolff
Haakon Lie hat sich nichts vorzuwerfen: „Ich bin stolz darauf, daß ich als der angesehen werde, der den Kampf gegen diese rote Pest geführt hat“, sagt der 90jährige Veteran der sozialdemokratischen Arbeiterpartei Norwegens. Auf seine persönliche Initiative hin hat die Partei die eigenen GenossInnen in den Parteizentralen durch den polizeilichen Geheimdienst abhören und einer ständigen Gesinnungskontrolle unterwerfen lassen.
In einem am Mittwoch veröffentlichten Bericht – „Norwegens Watergate“ nennt ihn der Osloer Friedensforscher Nils Petter Gleditsch – wird über 1.130 Seiten mit enthüllt, wie der norwegische Geheimdienst das Land in der Nachkriegszeit unter eine lückenlose Gesinnungskontrolle stellte, die offenbar erst – so überhaupt – 1991 endete. Nicht nur die Telefone kommunistischer Organisationen wurden abgehört, auch die im Parlament vertretenen Linkssozialisten wurden bespitzelt. Und mehr noch: Auf Initiative der eigenen Führung wurden linksabweichlerischer Tendenzen verdächtige SozialdemokratInnen unter Überwachung des „Politiets Overvåkningstjeneste“ (POT) gestellt, des polizeilichen Geheimdienstes. POT wurde lange Jahre offenbar ganz selbstverständlich als Werkzeug zum Privatgebrauch der regierenden Arbeiterpartei angesehen, mit dem sie die eigenen Reihen überwachen konnte. LehrerInnen und RichterInnen, ja selbst Reinigungskräfte bei der Post oder HilfskellnerInnen im Speisewagen der Bahn mußten den geheimen Gesinnungscheck durchlaufen.
Diese Schnüffelei ist nicht etwa ein längst vergangenes Kapitel aus der Zeit antikommunistischer Hysterie der fünfziger und sechziger Jahre. Zwischen 1964 und 1981 hat sich die Zahl der überwachten NorwegerInnen mehr als verdoppelt, die Zahl der angelegten Personenakten stieg von über 20.000 auf 49.000. Immerhin mehr als einer unter 100 der vier Millionen EinwohnerInnen kam so ins Visier. Kinder und Jugendliche eingerechnet: Selbst Elfjährige, die an Sommerlagern kommunistischer und linkssozialistischer Organisationen teilnahmen, wurden registriert. Akten mit Personen- und Familiendaten wurden angelegt, in denen von der „Observation“ dieser Kinder die Rede ist. Ein besonders dunkles Kapitel in diesem Wanzen- und Spitzelsumpf: Die ganz überwiegende Anzahl der verfassungsrechtlich eigentlich völlig unzulässigen Überwachungsaktionen wurden von RichterInnen ohne nähere Kontrolle pauschal genehmigt.
Nachdem es immer wieder Enthüllungen über illegale Abhöraktionen gegeben hatte, hatte das norwegische Parlament im Frühjahr 1994 eine Kommission eingesetzt, die aufklären sollte, womit sich die geheimen Dienste des Landes eigentlich in den letzten 50 Jahren befaßt hatten. Unter Leitung von Ketil Lund, Richter am Höchsten Gericht, erkämpfte sich diese Kommission zunächst das Recht, vorbehaltlos und ohne Beschränkungen Einsicht in die Geheimdienstarchive zu erhalten. Auch wenn die Regierung sich das zunächst so gar nicht vorgestellt hatte und versuchte, die Arbeit der Kommission zu behindern, gelang es Parlament und Medien, solch ein unumschränktes Einsichtsrecht zu erzwingen. Gestern zogen die Abgeordneten des Storting dann endgültig den Vorhang auf: Im Rahmen einer Sondersitzung des Parlaments beschlossen sie, daß der bis dahin geheime Bericht der Lundkommission ab sofort öffentlich sei. Nun kann sich Oslo damit rühmen, als vermutlich erstes Land überhaupt seinen Geheimdiensten so öffentlich die Hosen herunterzogen zu haben. Insider wissen deshalb auch von „großer Verunsicherung“ in den Kreisen der norwegischen James Bonds zu berichten. „Die Nachkriegsgeschichte muß umgeschrieben werden“, meint der Geschichtsprofessor Berge Furre, selbst Mitglied der Lund- Kommission. Und eine nach der Lektüre des Rapports offenbar schockierte Vorsitzende der bäuerlichen Zentrumspartei, Anne Enger Lahnstein: „Es ist wahnsinnig, wie Einzelpersonen und Gruppen in unserem Land behandelt worden sind.“ Zum politischen Nachspiel, das jetzt folgen wird, gehören nicht nur unangenehme Fragen an die Arbeiterpartei, sondern eine institutionalisierte Kontrolle der Geheimdienste.
Den NorwegerInnen stehen noch mehr Enthüllungen ins Haus. Jetzt soll auch noch eine Organisation durchleuchtet werden, deren Entschleierung wegen der Auslandsverbindungen problematisch werden könnte: Die jedenfalls bis in die jüngste Vergangenheit, vermutlich noch bis heute aktive „Stay Behind“, die geheime Organisation der Nato-Länder zur Bespitzelung und Schaffung einer Untergrundmilitärstruktur.
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