Kremlchef wildert im Demokratenrevier

Sechs Wochen vor der Präsidentenwahl verkündet Rußlands Präsident Boris Jelzin den Schulterschluß mit den Demokraten. Doch deren Chef, Grigori Jawlinski, weiß nichts davon  ■ Aus Moskau Klaus-Helge Donath

Was passiert, wenn wir Sie wählen, Boris Nikolaijewitsch?“ möchte ein Neugieriger auf einer Wahlveranstaltung vom Kremlchef wissen. „Ihr habt einen neuen Präsidenten“, meint der. „Und sollten wir für Sjuganow stimmen?“ „Dann behaltet ihr den alten...“ Ein Witz, der in Moskau derzeit die Runde macht. Der Präsidentschaftswahlkampf läuft auf Hochtouren, doch wird auch gewählt? Alle politischen Lager zweifeln daran. Nur Amtsinhaber Boris Jelzin tritt dergleichen Befürchtungen entgegen: Der Urnengang findet statt, geschehe was wolle.

Die Chancen einer Wiederwahl stehen nicht allzu gut für den Kremlzaren Boris, obwohl es ihm gelungen ist, die Talsohle der Ablehnung zu durchschreiten. Noch führt der kommunistische Rivale Gennadi Sjuganow in Umfragen, doch sein bequemer Vorsprung schrumpft. Was noch vor wenigen Wochen wie ein leidiger Sparringskampf auszusehen schien, der der Ordnung halber absolviert werden muß, wird nun selbst für Sjuganow zu einer Ochsentour. Derweil sucht Jelzin unter den Mitbewerbern Kandidaten, die auf die eigenen Ambitionen verzichten und ihm Hilfstruppen leihen.

Mehrere Stunden verhandelte er am vorletzten Wochenende mit Grigori Jawlinski, dem Vorsitzenden der einzigen nennenswerten reformorientierten demokratischen Gruppierung „Jabloko“, die im Dezember den Sprung in die Staatsduma schaffte. Jawlinski rangiert hinter den beiden Spitzenakteuren und dem Rechtsaußen Wladimir Schirinowski an vierter Stelle der Beliebtheitsskala.

Bisher hatte sich Jawlinski als erbitterter Opponent Jelzins geriert. Schriftlich ließ er dem Präsidenten vor diesem Treffen seine Konditionen, sollte er ihn unterstützen, zukommen: Änderung der Wirtschafts- und Sozialpolitik, Stimulierung der Produktion, Armeereform, Beendigung des Tschetschenienkrieges und nicht zuletzt personelle Umbesetzungen. Der bedrängte Jelzin konnte es kaum abwarten und posaunte die frohe Botschaft bei seiner Wahlkampftour an diesem Wochenende durch Südrußland gleich hinaus ins Volk: „Wir sind dabei, uns zu einigen.“ Doch Ökonom Jawlinski dementierte prompt. Das entspreche nicht der Wirklichkeit, erklärte er im russischen Fernsehsender NTV.

Jawlinski legt Wert darauf, sich nicht allzu wohlfeil preiszubieten. Er konterte sofort auf die ihm eigene unbescheidene Art: „Wir haben nicht über Pflichten gesprochen, auch nicht darüber, ob ich meine Kandidatur und er seine zurückzieht.“ Jawlinski ist ein Taktiker, der sich diesmal allerdings kräftig verschätzt hat. Chancen, in die zweite Runde der Präsidentenwahlen zu gelangen, besitzt er nicht. Obwohl gerade er im Endlauf Aussichten hätte. Bei einer Konstellation Sjuganow – Jawlinski könnte er wohl mit größerem Zuspruch rechnen als Kommunist Sjuganow, dessen Wählerpotential im zweiten Wahlgang nicht maßgeblich wachsen wird.

Jawlinski gehört zu den notorischen Egomanen in der russischen Politik, die zunächst nur sich im Auge, hingegen nicht ausreichend unter Kontrolle haben. Die Einigung auf einen gemeinsamen Kandidaten des Reformlagers hat er mehrfach hintertrieben. Jetzt dämmert es ihm, während Jelzin begreift, ohne Jawlinskis Stimmen womöglich nur im Halbfinale zu landen. Der ambitionierte Jungpolitiker bastelt allerdings seit Wochen an einem Bündnis mit Ex-General Alexander Lebed und dem pragmatischen Augenarzt Swatoslaw Fjodorow, der es schon in der Sowjetunion zu Valutamillionen brachte. Nun will Fjodorow mit einer Art Genossenschaftsmodell Präsident werden. Dieser Troika verpaßte man das Label „Dritte Kraft“, was ein wenig in die Irre leitet, denn gerade daran gebricht es ihr. Denn auch in diesem Kreis beansprucht Jawlinski die Führungsrolle, die ihm die Notgemeinschaft aber nicht so ohne weiteres zugestehen möchte.

Für den Präsidenten ein gefundenes Fressen, der jetzt in diesem Revier nach Lust und Laune wildert. Demnächst wird er mit Lebed zusammentreffen, danach mit Fjodorow konferieren, kündigte er an. Beide können mit etwa vier Prozent der Wähler rechnen, Jawlinski vielleicht mit zehn. Zusammengenommen wäre das ein solides Polster für Jelzin, um Sjuganow aus dem Rennen zu werfen.

Jawlinski, nicht gerade ein Mann monochromer Makellosigkeit, kann sich dem Ansinnen Jelzins nicht verschließen, will er nicht vor der Geschichte als Totengräber der jungen anfälligen Demokratie Rußlands dastehen. Denn trotz aller autoritären Anwandlungen, finsteren Figuren in seiner Umgebung und katastrophalen Fehlentscheidungen: Unter Jelzin kann in Rußland noch jeder sagen, was er denkt. Nach einer Machtübernahme der Kommunisten fürchten Medienvertreter, wird sich das ändern. Jawlinski pokert noch. Als Belohnung erhofft er vom Präsidenten das Amt des Premiers und weitgehende Freiheiten, das Kabinett zu besetzen. Das fürchtet aber ein Teil der Apparatschiks um Jelzin, die es lieber sähen, würde sich der Präsident mit den Kommunisten einigen.

Kürzlich forderte auch eine Reihe einflußreicher Wirtschaftsbosse und Bankiers, Jelzin möge doch, um allen Eventualitäten vorzubeugen, sich mit den Kommunisten in Einvernehmen setzen. Noch geht es um einen Teil, am Ende gar ums Ganze. Kapital kennt schließlich weder Vaterland noch Moral, und auch die Kommunisten haben gegen Geld nichts einzuwenden, wenn sie genug davon abbekommen – so scheinen die Pragmatiker zu mutmaßen. Anscheinend konnte bisher keiner Boris Jelzin von diesem Kuhhandel überzeugen. Klarheit über die Konstellation der Kandidaten ist wohl erst unmittelbar vor dem Wahltag zu erwarten.