: Fluch der Bodenhaftung
Trevor Weekes hat ein Buch zum Hühnerflug geschrieben ■ Von Stephan Schurr
Die Natur ist ungerecht. Das klingt zwar sentimental und naiv, eine Betrachtung ihrer Zustände läßt aber kein anderes Urteil zu. Zweifellos am härtesten traf es die Spezies Mensch. Der kleine Vorteil, mit größerem Schädelvolumen und einem praktischen Daumen ausgestattet zu sein, wurde mit nackter Haut und dem anatomisch aufgezwungenen aufrechten Gang erkauft. Ein kleiner Trost: Hühner sind nicht besser dran. Nur ignorante Dichter glauben, in ihren Erstlingswerken auf die vermeintlichen Vorzüge der Windhühner hinweisen zu müssen.
Zwar gehören Hühner (lat.: galli) zur Luxusklasse der Lebewesen, doch die vornehmste Eigenschaft der Vögel, das Fliegen, mutierte bei ihnen zu einem Geflatter mit konstanter Bodenhaftung. Die Laune der Natur hatte schlimme Folgen. Hühnerbarone im Oldenburgischen und anderswo können sich ihrer eierlegenden Sklaven, [den Hahn möchte ich sehen, der Eier legt. Gar so launisch war die Natur bisher ja wohl nicht. d.sin] die als Broiler und Hendl enden, selbst bei Freilandhaltung sicher sein.
Aber der Mensch, der sich bis heute um die Verbesserung der Natur bemüht, hat die Folgen dieses Fauxpas der Evolution zu lindern gewußt. Wie, das ist in einem kleinen Buch des Australiers Trevor Weekes nachzulesen. Ein kleiner Verlag in Kiel hat das vor fünf Jahren erstmals erschienene Werk gerade noch zur rechten Zeit übersetzt, denn leider droht das emanzipatorische Projekt des Hühnerflugs im Mutterland seiner Entstehung in Vergessenheit zu geraten. Bereits 1930 nämlich ließ ein deutscher Erfinder ein Bodybuilding-Gerät patentieren, das Hühner darauf vorbereitet, nach wenigen Wochen in die Lüfte zu entschweben – mit ruhigen Bewegungen der Schwingen, im Formationsflug gen Süden.
Das erste „Flughuhn“ war ein deutsches und hieß Heinz Rühmann. Seine Leistungen machten dem berühmten Flugartisten der dreißiger Jahre alle Ehre. Es ist kein Zufall, daß die Deutschen, dieses mit Flug- und Raketenpionieren reich gesegnete Volk, schon damals in der Tieraeronautik die Führung übernahmen. Eine legendäre „Flughuhn-Schule“ befand sich bis 1939 am Rande Berlins – nicht zu verwechseln mit dem „Reichs-Lufthuhn-Ausbildungszentrum“ in der Leipziger Straße, das Göring unterstand. Bei der Flughuhn-Schule handelte es sich um ein rein privates, durch Spendengelder finanziertes Institut. 20 hauptamtliche Mitarbeiter brachten pro Lehrgang über 100 Hühnern mit Hilfe des Trainingsgeräts das Fliegen bei. Es war die Glanzzeit der deutschen Flughuhn-Bewegung, die auch dann noch ihr Befreiungswerk fortsetzte, als Hühner und ihre Produkte während des Krieges zu begehrten Tauschobjekten wurden. Seit 1953 jedoch, nach der Wiederwahl Adenauers (CDU), der in aller Öffentlichkeit Brathähnchen verzehrte, erlahmte das Interesse. Eine finstere Epoche.
Erst 1982 erfuhr die Flughuhn- Bewegung wieder Auftrieb. Der neue Bundeskanzler Kohl (gleichfalls CDU) erkannte damals instinktsicher die Umbruchphase. Er übergab Werner Dollinger (CSU), dem Vorsitzenden des bayerischen Landesverbands der Hühnerfreunde, das Verkehrsressort.
Mit Weekes' Buch können sich nun alle, die ihrem Huhn zum befreienden Flugerlebnis verhelfen wollen, über die nötigen Schritte und Anschaffungen informieren. Von detailgenauen, instruktiven und großzügig reproduzierten Zeichnungen begleitet, wird zunächst das wichtigste Instrument des Flughuhn-Unterrichts dem Laien verständlich vorgestellt: die unübertroffene deutsche Apparatur, die als Bausatz im Fachhandel erhältlich ist. Das an einem Trageseil durch ein Lederkorsett befestigte Huhn wird mit Hilfe dieser klug ausgetüftelten Maschine über eine imaginäre Baum- und Häuserlandschaft (echte Laubsägearbeiten!) „gekurbelt“.
Dreißig Minuten täglich bewegt das Lehrpersonal die gefiederte Flugschülerin wie eine Seilbahngondel hin und her – die denkbar beste Vorbereitung auf den Jungfernflug, der schon nach wenigen Wochen stattfinden kann. Doch die Maschine, so Weekes, ersetzt nicht die psychologische Betreuung des Huhns. Eine „Diaschau majestätischer Vögel (wie Adler, Kondore und Pelikane) in der Flugphase“ und „ausgewählte Geräusche schlagender Flügel“ müssen das Huhn auf die neue ungewohnte Lebenssituation einstimmen.
Richtig. Dann aber empfiehlt Weekes tatsächlich, diese stimulierenden Hilfsmittel in einem „Hühnerstall“ einzusetzen. Ganz so, als ob er nicht wüßte, daß VerfechterInnen des Flughuhn-Gedankens diesen Vorläufer der Legebatterie seit Jahrzehnten bekämpfen. Denn Hühner gehören nicht in einen „Stall“, sondern aufs freie Land oder zumindest in das hühnergerecht eingerichtete Wohnzimmer. Ein Lapsus, der verrät, daß selbst engagierte Hühnerfreunde noch immer dem Sprachgebrauch jener barbarischen Zeit verhaftet sind, da man Hühner in „Ställen“ kasernierte. Allerdings werden die Verdienste dieses Buches dadurch kaum geschmälert. Mit seinen Kapiteln über die „Auswahl der Flieger“, das technische Zubehör für Flughühner und vielen praktischen Ratschlägen stellt es eine ideale Einführung in die Flughuhn-Kunde dar. Die nächste Auflage sollte besser um das letzte Kapitel über die „Grenzen des Fliegens“ gekürzt werden. Für Australien mag es notwendig sein, im Lande Reinhard Meys interessiert das niemanden. „Vogelliebhaber dieser Welt, vereinigt Euch, und helft dem Vogel, den die Evolution vergaß!“ Die Aufforderung des Autors beflügelt selbst jene, die den Glauben an Utopien verloren haben. Dieses Buch ist der höchst notwendige Beitrag, um den Flughuhn-Gedanken wieder populär zu machen, damit einer geknechteten Kreatur die Freiheit bald zuteil werde, aufzubrechen, wohin sie will – in eine Weltgegend, in der das Verzehren von Frühstückseiern und Brathähnchen unter Strafe steht.
Trevor Weekes: „Ihr Huhn lernt fliegen. Ein Trainingsleitfaden“. Achterbahn Verlag 1996, 35 Seiten, 24,80DM
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