: Ein Coup Jelzins im Wahlkampf
Der russische Präsident will die Wehrpflicht abschaffen – per Dekret. Das Unterhaus des Parlaments hält dies für unzulässig. Eine Berufsarmee wäre teurer, aber auch humaner ■ Aus Moskau Klaus-Helge Donath
Das russische Unterhaus hat gestern das am Vortag von Präsident Jelzin erlassene Dekret zur Abschaffung der Wehrpflicht für unzulässig erklärt. Dies könne nicht per Dekret entschieden werden, sagte der Vorsitzende des Unterhauses, der Kommunist Viktor Iljuschin, nach Angaben der Nachrichtenagentur ITAR-TASS. Vielmehr sei dafür ein vom Parlament verabschiedetes Gesetz notwendig. Im Parlament aber haben die Kommunisten die Mehrheit.
Nach dem Willen Jelzins soll die Plage des „Ehrendienstes“ in der Armee mit dem Jahr 2000 ein Ende haben. In seinem Dekret verfügte er, die allgemeine Wehrpflicht abzuschaffen und Rußlands Streitkräfte in eine Berufsarmee zu verwandeln. Desgleichen erließ er die Order, nur noch Freiwillige in Kriegs- und Krisengebiete zu entsenden. Viele Eltern und Jugendliche werden zunächst aufatmen. Jelzin ist vor den Präsidentschaftswahlen ein Coup gelungen. Zweifelnde Wähler werden nun möglicherweise dem alten Präsidenten erneut ihre Stimme geben.
Dekrete hat der Präsident zuhauf erlassen, wohl nur ein Bruchteil wurde auch umgesetzt. Wie der Beschluß des Unterhauses zeigt, kann die Armeereform das gleiche Schicksal ereilen. Die kommunistische Opposition, die die Duma beherrscht, wird mit allen Mitteln versuchen, die Reform zu hintertreiben. Sie pflegt die Legende der unbezwingbaren „Sowjetarmee“ und beschwört die mythische „Einheit von Volk und Armee“. Ginge es nach ihr, würde der militärische Sektor wieder den Löwenteil des Staatshaushalts verzehren.
In der Bevölkerung haben die Militärs indes spätestens mit dem Desaster in Tschetschenien abgewirtschaftet. Ihr Image fiel in diesem Frühjahr auf den Tiefstpunkt. Nur zwei Prozent der Moskauer hielten das „intellektuelle Potential der Armeeführung“ für dem anderer Streitkräfte überlegen, in der Kampfmoral waren es immerhin noch 19 Prozent, ermittelte die Zeitung Moskowskije Nowosti.
Zum Gegenangriff werden aber vor allem der Generalstab und das Offizierskorps blasen. Sie haben sich jahrelang erfolgreich gegen Reformversuche zur Wehr gesetzt. Zudem haben sie gewichtige Argumente auf ihrer Seite. Ein Umbau würde die ohnehin eingeschränkte Kampfkraft der Armee vorübergehend weiter schwächen. Seit den 30er Jahren wurde am inneren Aufbau der Streitkräfte nichts mehr verändert. Die fällige Straffung der Befehls-, Kampf- und Organisationsstrukturen könnte die Lenk- und Beweglichkeit erheblich beeinträchtigen, gerade in Rußland brauchen derlei Eingriffe mehr Zeit als anderswo. Angesichts eines brodelnden Kaukasus und einer „estnischen Verschwörung“, so könnten die Generäle einwenden, ein riskantes Unternehmen, das das Land an den Rand des Unterganges treibt.
Bisher haben die federführenden Militärs vorgegeben, die Berufsarmee würde den Staat teurer kommen als ein Heer von Wehrpflichtigen. Der stellvertretende Chef des Generalstabs rechnete vor, ein Berufssoldat koste viermal soviel wie ein Wehrpflichtiger. Insgesamt würde eine Reform das Vielfache eines Jahresbudgets des Verteidigungsministeriums verschlingen. Das trifft zu, doch dafür hätte Rußland eine Armee, die den neuen Erfordernissen gewachsen wäre. Tschetschenien hat gezeigt, daß Rußland nicht einmal über eine schlagkräftige Einheit verfügt, die Terroristen die Stirn bieten könnte.
Doch der Armeeführung geht es nicht um Schlagkraft, geschweige denn um Schonung des Staatshaushalts. Die Armee ist ein Staat im Staat und korrupt bis auf die Knochen. Wider alle Legenden stand es um ihre Moral auch vor den Reformen nicht viel besser. Offiziell befinden sich zwischen 1,7 und 1,9 Millionen Menschen im Heer unter Waffen. Insgesamt, einschließlich der Grenzeinheiten, Truppen des Innenministeriums und des Geheimdienstes, sind es über 3 Millionen. Unproduktive Kostgänger, die durchgefüttert werden wollen. Genau das verweigert die Armeeführung ihren gemeinen Soldaten, die zuhauf an Schwäche krepieren. So gerechnet, würde eine Berufsarmee in der Tat kostspieliger, aber humaner.
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