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Die im Freien sieht man nicht

■ Forschungsinstitut zählt im Auftrag der Sozialbehörde 1200 Obdachlose auf Hamburgs Straßen / Dunkelziffer ist „natürlich hoch“ Von Heike Haarhoff

Irgendwann ist sie vor dem prügelnden Typ geflohen. Da sitzt sie besser illegal und ohne Geld auf der Straße. Wie lange das schon mit dem „Platte machen“ geht, verrät sie nicht. Woher sie kommt, wie alt sie ist, auch nicht. Und schon gar nicht, wo sie ihre obdachlosen Nächte verbringt: Der Typ könnte sie finden. Daß der Fragebogen zur Zählung der Menschen, die auf Hamburgs Straßen leben – unterteilt nach Geschlecht, Alter, Nationalität und Dauer der Obdachlosigkeit – anonym sein sollte, glaubte sie nicht.

„Natürlich ist die Dunkelziffer hoch“, sagte Sozialsenatorin Helgrit Fischer-Menzel (SPD), als sie gestern die Ergebnisse der bundesweit ersten geschlechtsspezifischen Statistik obdachloser Menschen vorstellte: Danach leben mindestens 1200 – und nach Schätzung der Forscher tatsächlich 1400 – Menschen in der Hansestadt auf der Straße; rund 5000 weitere in Hotels, Pensionen und den Obdachlosen-Unterkünften der staatlichen und freien Träger. In der ersten Märzwoche war die Bonner Forschungsstelle „socialdata“ im Auftrag der Sozialbehörde und der Hamburger Wohlfahrtsverbände durch 133 Obdachlosen-Tagestreffs, Suppenküchen, zum Caritas-Krankenpflegemobil und andere niedrigschwellige Einrichtungen gezogen, um erstmals die Zahl der „tatsächlich auf der Straße lebenden“ obdachlosen Men- schen in Hamburg zu erheben: Bisherige Schätzungen schwankten zwischen 500 und 5000; ohne genaue Daten, so die jahrelange Kritik von frauen- und obdachlosenpolitischen Verbänden, ließe sich Hilfe weder bedürfnisgerecht noch effizient gestalten. Das soll sich ändern.

Der „durchschnittliche“ Obdachlose ist männlich, 38 Jahre alt und lebt seit dreieinhalb Jahren auf der Straße. Mit 17 Prozent lag die Zahl der obdachlosen Frauen erwartungsgemäß weit unter der der Männer: „Das Problem der verdeckten Obdachlosigkeit, das sich besonders bei Frauen stellt, ist damit natürlich nicht gelöst“, räumte Dieter Ackermann von der Caritas ein. Doch könne die Statistik Anstöße geben, die 130 Millionen Mark, die Hamburg jährlich in die Obdachlosenhilfe investiert, effizienter zu nutzen: So war die „Dimension ausländischer Obdachlosigkeit“ bislang unbekannt: Ein Fünftel der Befragten gab an, nicht deutsch zu sein, das entspricht etwa dem Verhältnis der ausländischen an der hamburgischen Gesamtbevölke-rung. „Die meisten“, so Ackermann, „kommen aus Osteuropa“. Ihnen müßte verstärkt geholfen werden, Sprachbarrieren abzubauen. Unterschätzt worden sei bislang auch das Problem der Obdachlosigkeit im Alter: JedeR fünfte Obdachlose in Hamburg ist älter als 50 Jahre. Es geht nicht darum, erkannte Fischer-Menzel das Problem, einfach „mehr Wohnungen und Übernachtungsplätze“ zu schaffen: Die „alarmierend“ hohen Zahlen derer, die trotz vorhandenen Angebots lieber unter freiem Himmel übernachteten, bewiesen das Akzep-tanzproblem: „Wer jahrelang auf der Straße gelebt hat, muß Wohnen erst wieder lernen.“

Harsche Kritik an der Methode übte Dieter Redenz vom Obdachlosen-Magazin Hinz&Kunzt: Nur in Obdachlosen-Einrichtungen sei gezählt worden, nicht aber dort, „wo die Leute wirklich Platte machen“. Also seien all diejenigen, die selbst niedrigschwellige Angebote wie Suppenküchen mieden, nicht erfaßt. Gleiches gelte für die Junkies unter den Obdachlosen: Die meisten Drogenhilfeeinrichtungen hatten die Mitarbeit an der Untersuchung verweigert, weil sie um die Anonymität fürchteten.

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