Wenn eine das Maß verliert

■ Die Befreierin des Psychopathen: Ab Donnerstag steht Tamar S. in Hamburg vor Gericht. Was trieb die lesbische Therapeutin dazu, ausgerechnet dem Frauenmörder Thomas Holst die Türen aufzuschließen? Die Frau zwischen fanatischem Idealismus und fataler Selbstüberschätzung portraitiert Silke Mertins

Kein Außenseiter war ihr zu abseitig, kein Loser zu verloren, kein Aufwand zu viel: Die 40jährige Psychotherapeutin Tamar S., die den dreifachen Frauenmörder Thomas Holst im September vergangenen Jahres befreite, hatte schon immer ein Faible für solche, die als hoffnungslose Fälle galten.

Von den autistischen Jugendlichen, mit denen sie für ihre Diplomarbeit arbeitete, war der schwierigste ihr der liebste. Auch später sah sie nie auf die Uhr, wenn depressive PatientInnen sie brauchten. Für die Opfer von Männergewalt, die an den Rand des psychischen Zusammenbruchs getrieben wurden, riß sie sich Beine aus. Ehemalige KollegInnen beschreiben Tamar als „ausgesprochen warmherzig“, sehr idealistisch und mit einem „ausgeprägten Gerechtigkeitssinn“. Kein Zeugnis, das ihr nicht Kompetenz, Gewissenhaftigkeit und überdurchschnittliches Engagement bescheinigt. Tamar S. standen, so schien es, alle Türen für eine Karriere offen.

Und dann das: Ausgerechnet Thomas Holst, dem Mann, der drei Frauen umgebracht und grausam zugerichtet hat und der seitdem in der forensischen Psychiatrie des Allgemeinen Krankenhauses Ochsenzoll (AKO) einsitzt, verhilft sie zur Flucht. Einem, der in den Augen der breiten Öffentlichkeit als unzurechnungsfähige Bestie gilt.

Nichts scheint zusammenzupassen. Als Liebchen des Serienmörders wird sie zunächst dargestellt, als Psychopathin, die einen Psychopathen befreit. Doch Tamar S. ist lesbisch, liebt seit zwei Jahrzehnten dieselbe Frau, deretwegen sie 21jährig aus Israel nach Deutschland kam. Die gängigen Erklärungsmuster vom sexuell und emotional hörigen Weibchen, das blind vor Liebe einem Monster den Weg in die Freiheit bahnt, greift nicht. Doch warum dann hat Tamar S., eine begabte und gebildete Frau, das Maß verloren?

„Tamar hat fast immer länger gearbeitet, als sie bei ihrer halben Stelle gemußt hätte“, sind sich die drei Patienten Dieter, André und Andreas aus dem Haus 18, forensische Psychiatrie, des AKO einig. Tamar war auf ihrer Seite, eine der wenigen, erzählen sie. Und den medizinischen Leitern ein Dorn im Auge. „Auch Pflegepersonal, das sich besonders engagiert um uns kümmerte, wurde von oben ausgebremst“, so die drei Mit-Patienten von Thomas Holst. Ebenso wie Holst sind sie persönlichkeitsgestört; ein Krankheitsbild, mit dem die deutsche Psychiatrie, anders als etwa die niederländische, nicht viel anfangen kann. Spezialisten für persönlichkeitsgestörte Sexualstraftäter gibt es kaum, im AK Ochsenzoll gar nicht.

Thomas Holst war ein unbequemer Patient; er wollte nicht akzeptieren, daß er statt therapiert nur verwahrt wurde, daß zwei Psychologen 60 Patienten versorgen, obwohl ein Platz im Haus rund 450 Mark pro Tag und Kopf kostet. Schnell galt er als Rädelsführer einer Gruppe, die ein Mängel-„Dossier“ verfaßte, die sich verweigerte, externe Therapeuten verlangte und die Presse mit Informationen fütterte. Holst & Co wurden als nicht therapierfähig und -willig abgestempelt. Es drohte die Abschiebung in den normalen Strafvollzug.

Tamars ausgeprägter Gerechtigkeitssinn trat in Aktion: Wenn diese Menschen krank sind, muß ihnen geholfen werden. Sie verdienen eine Chance, alles andere sei unmoralisch. Sie wußte auch, daß gewalttätige Persönlichkeitsgestörte nicht für immer im AKO oder im Knast festgehalten werden können. Holst, wie auch seine Mitstreiter, sind unter oder knapp 30 Jahre alt. Irgendwann kommen sie wieder frei. Aber was passiert, wenn sie in zehn, 15 oder 20 Jahren untherapiert rausgelassen werden?

„Es gibt eine kleine Gruppe, die nicht therapierfähig ist, und eine große, für die man etwas tun kann“, so der Psychiater Frank Urbaniok, der in der Schweiz mit Vergewaltigern arbeitet. Auch Tamar S. glaubt fest daran. Obwohl sie nur als Beschäftigungstherapeutin angestellt ist, arbeitet sie mit Holst, versucht in vielen Stunden Einzeltherapie, seiner Störung auf den Grund zu kommen. Sehr zum Mißfallen der Klinikleitung, die Holst für einen Simulanten hält, der in den Knast gehört.

Als Tamar S. erfährt, daß sie versetzt werden soll, glaubt sie, schnell handeln zu müssen. Denn für sie geht es um Höheres: um die therapeutische Ehre, um die Mißstände im AK Ochsenzoll, um das Recht auf Heilung. In ihrem zur Selbstüberschätzung neigenden Idealismus glaubt sie, Holst im Griff zu haben. Für Tamar S. gehört nicht der Ausbruch, sondern die ihrer Ansicht nach unfähige Psychiatrie angeklagt. Tatsächlich tritt sie mit der bisher einmaligen Fluchthilfe einer Therapeutin eine Lawine los: Nie wurde das Thema „Was tun mit Sexualstraftätern?“ so ausführlich in Artikelserien und Talk-Shows diskutiert wie nach der Flucht von Thomas Holst.

Wohlwollende Sympathie für den Täter brauche man ebenso wie das Entsetzen über die Tat, beschreibt der Psychiater Urbaniok den therapeutischen Balanceakt. Tamar S. aber ist bei Holst aus dem Gleichgewicht geraten: Sie sieht nur noch den kranken Menschen. Und schließt ihm die Türen auf.

Nun sitzt sie selber hinter verschlossenen Türen. Angeklagt wegen Gefangenenbefreiung aus niederen Beweggründen muß sie sich nach einem umfassenden Geständnis ab Donnerstag in Hamburg vor Gericht verantworten. „Um ihre Motivation für die Tat werden wir kämpfen“, kündigt ihr Anwalt Yitzhak Goldfine an. Auf dem Spiel steht das Strafmaß: drei oder fünf Jahre Höchststrafe. Alle sollen sie als Zeugen aussagen: Thomas Holst, Klinikleiter Klaus Böhme, der Leiter der forensischen Psychiatrie Dr. Knipp, AKO-Patienten, Tamar S. selbst.

„Am Anfang beschäftigte mich die Frage, wie man zu Beginn einer vielleicht großen Karriere eine so unsinnige Tat machen kann“, so Goldfine, der unter anderem auch den Kremlflieger Mathias Rust verteidigt hat. „Im Laufe der Zeit kristallisierte sich eine Frau heraus, die eine absolute Altruistin ist und mich fasziniert hat.“ Daß Tamar S. trotz der polizeilichen Observation Holst die ganze Zeit, als er draußen war, behandelt hat, will Goldfine vor Gericht beweisen. „Sie hatten abgemacht, daß er sich sofort stellt, wenn sie verhaftet wird. Und so ist es auch geschehen.“

Tamar S. hatte niemanden eingeweiht. Nicht ihre Lebensgefährtin und nicht ihren alten Vater, der seit 1992 von dem Frauenpaar gepflegt wurde. Tamars Liebste glaubte sich und ihre Freundin zu unrecht unter massivem Druck der Polizei. Die SoKo drohte ihr, sie käme wegen Beihilfe dran, wenn sie nicht endlich gegen Tamar aussagte. Ende November vorigen Jahres rief sie bei der taz an: „Ich kann nicht mehr, das ist schlimmer als eine Hexenjagd.“ Nach Tamars Verhaftung zum Jahresende brach sie zusammen, ein Selbstmordversuch scheiterte.

Da nun keine mehr da ist, um sich um den kranken Vater zu kümmern, wird Pinchas S. gegen seinen Willen ins Krankenhaus gebracht. Tamar, in Handschellen zu zu ihm gebracht, sieht ihn noch einmal, bevor er stirbt. Goldfine: „Tamar ist überzeugt, die Polizei hat ihren Vater umgebracht.“ Auch die Behandlung seiner Mandantin in U-Haft – wegen angeblicher Suizidgefahr mußte sie nackt auf einer Pritsche liegen – hält Goldfine für „100prozentige Schikane“.

Ein ausgeprägtes „Helfersyndrom“ könne er bei Tamar nicht ausschließen, sagt Goldfine. Auch die Spuren, die das Schicksal ihrer Mutter Lea bei der Tochter hinterließen, könnten von Bedeutung sein, sinniert der in Hamburg lebende Israeli. Während Tamars Vater zu der ersten in Israel geborenen „Sabre“-Generation gehörte, war die Mutter ungarische Jüdin. Sie überlebte Theresienstadt. „Ich weiß nicht genau, welchen Einfluß das auf Tamar hatte“, sagt Goldfine vorsichtig, „aber bei der zweiten Generation von Überlebenden spricht man häufig von einem ,Lagersyndrom': Menschen, die kein Lebewesen hinter Gittern ertragen können.“

Ungeachtet ihrer Gefährlichkeit.