piwik no script img

Eine schweigende Generation

Ein Großteil der ersten Generation, die in Rußland in Freiheit erwachsen werden konnte, hat sich in einer von Drogen geprägten Jugendkultur verrannt. Der Staat weiß das zu nutzen  ■ Von Alina Wituknowskaja

1994 dachten die jungen Leute von Moskau, daß sie frei wären. Es schien so, als sei ihre Generation die erste in Rußland, die ein Recht auf die Erfahrung von Freiheit hatte – eine apolitische, unideologische Freiheit, für die sie nicht hatten kämpfen müssen. Sie war gratis, wie Manna vom Himmel gefallen. Mein eigenes Gefühl für den künstlichen, gewissermaßen den Ersatzcharakter dieser „Freiheit“, für die hinter den Kulissen lauernde Gefahr, war rein intuitiv. Es war das Gefühl, daß die damalige Jugendkultur vorübergehend und totgeboren, von völlig oberflächlicher Natur war.

Ich hatte keinerlei Gefühl für das Politische daran. Wie viele meiner Altersgenossen war ich davon überzeugt, daß unsere Welt und die Welt der Politik zwei parallele, unverbundene Universen waren. Wir waren sicher, daß wir außerhalb des Systems existierten. Die Trends, denen die jungen Leute folgten – neue Musik, Raves, künstliche Drogen, psychedelische Kunst –, waren nicht an sich gefährlich. Jedenfalls würden sie für uns auch nicht gefährlicher sein als für die Jugendlichen in den westlichen Ländern.

„Wer schluckt eigentlich LSD auf dieser Seite der Grenze zum Westen?“ fragte ich 1994 in der Zeitschrift Novoje wremja. „Das Establishment, die neuen Reichen, Studenten, Berufskünstler, die den ,Leichnam der Kunst‘ mit psychedelischen Lösungen neu beleben wollen. Der Kreis der Leute, die LSD nehmen, wird eher geschlossen bleiben, selbst wenn er alljährlich anwächst. Die russische Gesellschaft wird einmal mehr eine Speise dieses Jahrhunderts schlucken, die im eigenen Saft gekocht hat.“

Diese Sätze waren, wie ich heute glaube, der Grund für meine Verhaftung durch die Sicherheitskräfte. Sie hofften, daß ich ihnen Informationen über Leute geben könnte, die mit dem Drogenhandel zu tun hatten – vor allem über Kinder von Prominenten, um sie und ihre Eltern kompromittieren zu können und sie damit für politische Zwecken manipulier- und erpressbar zu machen.

Meine Zeilen von vor zwei Jahren erscheinen mir heute naiv. Sie reflektieren nur die psychologische Seite des Phänomens, das auf das Gesamtbild wenig Einfluß hat. In diesem Bild gibt es keine persönlichen psychologischen oder moralischen Probleme mehr. Es gibt keinen Raum mehr für die individuelle Persönlichkeit, nur noch Raum für die manipulative Gewalt gegen sie. Dieses Gesamtbild zeigt die düsteren Umrisse einer verschleierten Diktatur.

Im Gefängnis wurden mir diese Umrisse erschreckend deutlich. „Das kann nicht wahr sein! Nicht in Moskau 1994!“ schrieb ich da, verzweifelt und ungläubig. Aber es war so. Und ist so. Und Big Brother schaut mit schrecklichem Grinsen allem und allen zu: denen, die erfolglos gegen Ungerechtigkeit und Willkür anschreien, und denen, die sich dem System – bewußt oder unbewußt – anpassen.

Was ist in den letzten zwei Jahren mit der Jugend passiert? Was mit denen, über die ich damals geschrieben habe? Die Bewegung, von der ich damals geglaubt hatte, sie wäre kurzlebig und totgeboren, gibt es noch immer: statisch, versteinert und von derselben mechanischen Kraft getrieben.

Als ich aus dem Gefängnis kam, fühlte ich mich nicht etwa abgeschnitten oder fehl am Platz, wie ich befürchtet hatte, sondern empfand, daß die Zeit stehengeblieben war. Leute, die sich für progressiv hielten, schienen in Selbstgefälligkeit versunken. Die Rave-Bewegung (die sich selbst gerne Rave- Kultur nennt) läßt an das Bild eines verrückten alten Mannes denken, der in Mülltonnen kramt. Hier geht es um eine Senilität, die sich aus der Weigerung speist, ein bestimmtes Lebensstadium als Höhepunkt eines vollkommenen, ideologischen und ästhetischen Versagens anzuerkennen. Selbst jetzt noch schreien sie, daß sie für die Zukunft leben. Wenn dem so ist, dann ist diese Zukunft eine Zeit des Stillstands.

Sie haben einen Kult monotoner Klänge geschaffen, häßlichen – wenn auch zügellosen – Tanzens in Clubs, wo man die Gesichter im Dunkeln nicht erkennen kann und jede Individualität von einem anonymen Organismus verschluckt wird, verzerrt in primitiver Bewegung. Und sie sind ununterscheidbar geworden. Sie haben eine Kultur aus den Drogen gemacht, die, ihrer „mythischen Essenz“ entkleidet, nur noch ein billiger, giftiger Fix sind für eine Generation, die Angst hat, sich selbst ins Gesicht zu sehen, und die behauptet, daß sie die Grenzen ihres – tatsächlich eher geschrumpften – Bewußtseins übertreten hat.

Man hat sie zur „Rave- und Auslösch“-Generation erkärt, weil sie sich als unfähig erwiesen hat, irgendetwas anderes zu tun. Und sie reagieren auf diese Etikettierung wie Haustiere, deren Herrchen sie mit Dosenfutter verführt.

Ihre Moral ist durch die Doppelzüngigkeit des Systems nie auf die Probe gestellt worden, nicht vom Gesetz diktiert oder von der Konvention eingeschränkt. Sie ist durch nichts als sich selbst konditioniert worden. Ich habe nie gewagt, ihre Integrität zu beurteilen oder in Zweifel zu ziehen. Zwar habe ich geglaubt, daß sie bösartig, aggressiv oder zerstörerisch sein könnten, alles – außer degeneriert. Ich hätte ihnen alles Böse zugestanden (das Böse kann groß sein, kann Kunst sein). Aber Gier ist nichts anderes als Gier: nicht weiter bemerkenswert, armselig und berechnend.

Das war ihnen nicht angeboren. Aber nachdem das System sie zurückwies und ignorierte, seine Arme bis in ihren Wahnsinn reichten, fingen sie plötzlich an, sich nach dem Rhythmus der Diktatur zu bewegen – ohne die Musik abzustellen, ohne mit dem Tanzen aufzuhören, ohne ihren Gesichtsausdruck zu verändern. Ohne überrascht zu sein, ohne Widerstand, als ob das immer schon so gewesen wäre.

Der versteckte Zugriff wurde schnell genug sichtbar. Jeder wußte, wer die Clubs beherrschte und mit den Drogen sein Geschäft machte. Sie wurden beobachtet. Und beobachteten einander.

Man erpreßte sie mit dem, was sie einmal für ihre Freiheit gehalten hatten. Ihre Freiheit wurde zum Verbrechen.

Eine Generation, die ihre Freiheit für selbstverständlich hält, hat keine Ahnung, wie man sie verteidigt. Eine Generation, der Freiheit als etwas ganz Natürliches scheint, als etwas, das außerhalb des menschlichen Willens existiert, hat ihren Verlust als unumkehrbar akzeptiert.

Und selbst die, die die Gründe für ihren Freiheitsverlust begriffen haben, suchten nicht etwa nach Wegen, Widerstand zu leisten, wollten nicht rebellieren. Das System hat sich mit sicherer Hand neue Sklaven gewählt, den Mangel an Widerstand vorhergesehen und der Rave-Generation ihr Spielzeug gelassen. Man erlaubte ihnen weiterhin ihren Lebensstil, ihre Musik, ihre Sprache.

Man ließ sie unter dem wachsamen Auge der Polizei Drogen verkaufen. Die Vertrauenswürdigeren durften die weniger Vertrauenswürdigen unter ihre Kontrolle bringen. Und wenn die Polizei einen Arbeitsbericht abliefern muß, verraten die Vertrauenswürdigen die weniger Vertrauenswürdigen oder weniger Wichtigen, die eher nur Anhängsel am Drogenmarkt sind, oder sogar die, die nichts damit zu tun haben. Es macht keinen Unterschied.

Mit dem Mythos der Drogen ist es vorbei. Er ist durch ein strikt reguliertes Geschäft ersetzt worden, „legalisiert“ für die, die einen bestimmten Prozentsatz ihres Profits abgeben und gefährlich nur für die, die Beamten zum Opfer fallen, weil diese ihren Bilanzen nicht recht trauen.

Die Wirkung der bei der Moskauer Jugend heute populären Drogen hat nichts mit den synthetischen Sachen zu tun, die man 1994 kriegte. Es gab praktisch keine wirklich Süchtigen unter den Teenagern, die ich damals interviewte. Sie waren Abenteurer, „Reisende“ zwischen den Welten. Die geringe Gefahr des Konsums dieser Drogen, ihre leichte Zugänglichkeit schuf ein Gefühl der Distanz zwischen dem einzelnen und den Nebenwirkungen, die sich längerfristig vielleicht einstellen könnten. Jetzt, wo der Drogenkonsum deutlich riskant geworden ist, wird der Konsument, um so selten wie möglich auf den Markt gehen zu müssen, soviel kaufen, daß er dabei jeden Sinn für Proportionen verliert. Die Dosis ist dann nicht selten tödlich.

Saubere und billige synthetische psychedelische Drogen und harmlose Aufputschmittel sind verschwunden. Im Angebot sind statt dessen Ersatzstoffe von zweifelhafter Qualität, gemischt mit Waschpulver oder irgendwelchen anderen giftigen Substanzen – und

Fortsetzung nächste Seite

Fortsetzung

sie kosten ein Vermögen. Ich weiß von Fällen ernsthafter – sogar tödlicher – Vergiftungen. Die Zeit des Sterbens hat begonnen. Einer nach dem anderen sterben die Menschen, nachdem sie Amphetamine, die es in Moskau nicht mehr gibt, gegen Opium und Heroin eingetauscht haben.

Die Zahl der Süchtigen ist dramatisch gestiegen. Und die, die süchtig geworden sind, sind nicht selten Menschen, deren kreatives Potential einzigartig war. Die Rave-Generation hat ihre Genies vernichtet. Vielleicht war es aber auch das System, das sie aus dem Weg geschafft hat. Denn Genie protestiert, Genie ist zerstörerisch und gefährlich für den Apparat.

Wenn ich die heutige Situation mit der von vor zwei Jahren vergleiche, bin ich überzeugt, daß die Faktoren, die die heutige Drogenszene so viel schlimmer machen, politische sind. Denn obwohl die Polizei „Krieg“ gegen die Drogen führt, obwohl immer mehr kleine Händler oder Gelegenheitskonsumenten im Gefängnis landen (wo der psychologische und körperliche Schaden, der ihnen dort zugefügt wird, den durch Drogen oft weit hinter sich läßt), obwohl die Zahl der Informanten höher ist als die Zahl der potentiellen Opfer, trotz alledem ist die Qualität der Drogen schlecht wie nie. Während ihr Preis ständig steigt, versinken immer mehr Leute in der Sucht. Für immer. Drogen sind zu einem Kontrollinstrument geworden, einer Form von Regierung.

Ein Jugendlicher, der mit Drogen erwischt wird, die er vielleicht das erste Mal ausprobiert hat oder die ihm von einem „guten Freund“ zugesteckt wurden, wird physisch und moralisch in die Mangel genommen, oft unter Umgehung des gesetzlichen Procederes. Sie machen ein vergiftetes Tier aus ihm, sie malen ihm seine Zukunft im Gefängnis aus, und dann, als Gnadenakt, bieten sie ihm die Alternative an: Kooperation. Niemand ist davor gefeit. Das System wußte, was für eine gute Idee es war, die Rave-Generation in eine Generation von Informanten zu verwandeln.

Ein intellektueller Kreis, der einmal bohemien sein wollte und psychedelische Erfahrung hat, wird vom Apparat bedient, und kein Widerstand regt sich. Im Gegensatz zur „geschwätzigen“ Intelligenzia sagt die schweigende Generation nichts über die Veränderungen im System. Nur ihr unsteter Blick, ihre Ängstlichkeit, ihr nervöser Gang, die Sprache des Marktes, die in ihrer verschlüsselten Rede aufscheint und meine eigene Erfahrung, die Dokumente, die ich gesehen habe, erzählen von den Veränderungen, die längst stattgefunden haben.

Das System in Rußland hat sich nie verändert, es wurde, als es nötig wurde, nur in sein Gegenteil verkehrt. Und die Menschen gaben sich mit der Illusion zufrieden, Einfluß auf den Apparat ausüben zu können. Wenn die Bevölkerung droht aufzuwachen, läßt sich der Staat neue Methoden einfallen, um sie wieder zu versklaven.

Und die erste Generation, die in Freiheit erwachsen wurde, schaffte sich einen Totalitarismus mit ihren eigenen Händen, einen Totalitarismus, der sich aus Verrat und Informantentum speist. Ein neuer Gulag ist entstanden mit Millionen von Gefangenen. Die „stumme Generation“ wird nie fragen: Warum? Die stumme Generation wird nur die Aussageprotokolle unterschreiben und ihr Leben zwischen Parties und Polizei wieder aufnehmen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen