: Ein Profi braucht kein Glück
Ein schönes, kleines Leben führen: In seinem neuen Film „Wolken ziehen vorüber“ läßt Aki Kaurismäki alle Arbeitssuchenden im Restaurant „Arbeit“ finden. Und das mitten in Finnland. Märchenhaft, aber wahr ■ Von Anke Westphal
In „Summer Magic“, einem alten Hollywoodschinken mit Gesangseinlagen, gerät eine gutsituierte Familie aus Boston unversehens in Not. Dorothy McGuire spielt die alleinerziehende Mutter von drei Kindern, deren Finanzberater sich an der Börse verspekuliert hat. Plötzlich ist alles futsch, dann muß man zu allem Überfluß noch eine dünkelhafte Kusine aufnehmen, eine „Dame“ mit angeblichen Pariser Modellkleidern und gerümpftem Näschen. „Laß die Armut nicht Besitz von dir ergreifen“, spricht Julia, „bewahre dir die Schönheit deiner Gedankenwelt vor dem schmutzigen Alltag.“
Genau darum geht es in Aki Kaurismäkis neuem Film „Wolken ziehen vorüber“. Ilona (Kati Outinen) ist Chefserviererin in einem ehemaligen „besten Restaurant der Stadt“. Weil sie es immer noch für das beste hält, gibt sie sich alle Mühe, diesen Ruf zu konservieren – und nimmt damit die Versuche, ihren drohenden sozialen Abstieg aufzuhalten, vorweg. Die Angestellten des „Dubrovnik“ sind eine Familie, der Koch – in einer Hand das Küchenmesser, in der anderen die Wodka-Flasche – das Sorgenkind. Die Chefin ist gütig und der Portier verläßlich, sanfte Autorität gilt trotzdem etwas. Ilona führt ein schönes, kleines Leben. Nach dem Dienst steigt sie zu ihrem Mann Lauri in die Straßenbahn. Zu Hause wartet der neue Fernseher, für Bücher hat es noch nicht gereicht, aber das soll noch werden. So perfekt funktionierende hermeneutische Filmwelten werden eigens zu dem Zweck geschaffen, durch Fremdeinwirkung von außen gestört oder sogar zerstört zu werden. Eines Tages stehen die Herren mit den weißen Westen im „Dubrovnik“ und übernehmen, kein Bedarf am alten Personal.
Arbeit und Arbeitslosigkeit waren in der Vergangenheit keine Lieblingsthemen des Kinos und sind es auch in der Gegenwart nicht. Eine Aufstellung im „Guinnessbuch Film“ verzeichnet folgende Filmberufe als beliebteste für Männer: Polizist, Arzt/Psychiater, Offizier, Richter, Kommissar, Journalist oder Geschäftsmann. Filmfrauen gehen einer Tätigkeit als Sängerin/Tänzerin, Schauspielerin, Büroangestellte, Kindermädchen, Journalistin (in der Reihenfolge), Prostituierte, Bardame oder Studentin nach – falls im Film überhaupt ein Beruf ausgeübt wird. Wenn einem also Chaplins Montierer aus „Moderne Zeiten“, „Früchte des Zorns“ oder auch nur das Ufa-Musical „Die Drei von der Tankstelle“ einfallen, kann man schon froh sein. Es sei denn, man ist jenseits des Eisernen Vorhangs aufgewachsen, wo Stahlarbeiter tragende Rollen spielten – und beim Großteil des Publikums durchfielen, weil man sich ein „Leben wie im Kino“ doch anders vorgestellt hatte.
Strahlende Sitzgruppen
Weil Aki Kaurismäki jeden mechanischen Realismus vermeidet, rettet er jedoch sein Thema. Kaurismäkis Figuren sind einerseits Durchschnittsmenschen und keine äußerlich optimierten Erscheinungen, die ein Designerleben mit Designerberuf zwischen Designermöbeln führen. Andererseits ist aber die Normalität ihres Umfelds derartig durch Farben überhöht und stilisiert, daß keiner daran zweifeln kann, sich im Kino zu befinden und doch nicht im richtigen Leben. Die Sitzgruppe im Wohnzimmer von Ilona und Lauri strahlt schweinchenpink vor blauer Wand, dazu noch Ilonas feuerwehrroter Mantel. Die Übergardinen enden exakt mit der Kante des Fensterbretts – ein finnischer Blues, der noch nicht von sich weiß. Es könnten die sechziger, die siebziger oder die neunziger Jahre sein, und doch gesteht man der ganzen Künstlichkeit alle street credibility der Welt zu, denn abgesehen vom Geschehen muffelt es in „Wolken ziehen vorüber“ genauso wie in älteren Kaurismäki-Filmen: nach Plaste und Elaste. Blumenvasen sind mittig auf so etwas wie Mitropa-Tischen plaziert, der Putz bröckelt von rußigen Fassaden, die Straßenbahnen haben vierzig Jahre auf dem Buckel. Verwalteter Mangel. Im „Dubrovnik“ tanzt man zu finnischem Mambo, Ken Saro-Wiwa wird gehängt. Bei Kaurismäki befindet man sich immer irgendwo in der Mitte zwischen alten Zeiten und billigem Modernismus.
Die Akteure inklusive. Niemand würde Kati Outinen wegen übergroßer Schönheit anklagen, doch ihre großen, hellen, wimpernlosen Augen sind so alt und wissend, daß man ihr sofort verfallen ist. Ein sehr gerader Rücken, stumm ordnet sie ein Tischtuch, steckt sie sich eine Zigarette an – Outinen beherrscht (wie schon in früheren Kaurismäki-Filmen) jede Szene ohne Mühe. Ihre Ökonomie der Bewegung wirkt nahezu autistisch, dabei scheint sie immer nah am Heulen, wie jemand, der gerade gebackpfeift wurde, heult aber nie. Dünne Strähnen hängen Ilona ins Gesicht, aber kraft ihres geraden Rückens und ihrer wissenden Augen erhält sie alles aufrecht, ohne sie würde diese kleine Welt sofort einstürzen. Und es kommt wirklich dicke im Leben von Ilona und Lauri, denn auch Lauri verliert seinen Job als Straßenbahnfahrer. „Die Rezession trifft uns alle. Der Feind ist unsichtbar“, behauptet Kaurismäki und läßt die Straßenbahnfahrer deswegen um die verbliebenen Jobs würfeln. Das kann man nun finden, wie man will. Lauri verliert, dann werden nach und nach die schönen neuen, aber leider auf Kredit gekauften Möbel abgeholt, und zu guter Letzt droht auch noch der Verlust der Wohnung – das Haus, in dem Ilona und Lauri wohnen, wird verkauft. Sie verlieren alles, sogar sich selbst.
Konstruktion à la Münchhausen
Denn Lauri will zunächst nicht wahrhaben, was geschieht, möchte „seine reine Gedankenwelt“ tatsächlich nicht durch den schmutzigen Alltag beflecken lassen. „Ein Profi braucht kein Glück“, sagt er und kauft erst einmal die teuersten Angeberzigarren für sich und Blumen für Ilona. (Und genauso geht das. Als ich das erstemal arbeitslos wurde, habe ich für tausend Mark, die ich nicht hatte, eingekauft.) Aki Kaurismäki ersetzt jedoch dieses Mal die übliche „Unfähigkeit seiner Helden, mit den Hilfsmitteln der Freiheit umzugehen“, durch eine Konstruktion à la Münchhausen, der märchenhaften Möglichkeit, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen. Ilona macht, weil ihr nichts anderes übrigbleibt, einfach weiter. Ihre Odyssee der Stellensuche führt durch ominöse Bars und private Stellenvermittlungen immer tiefer in den Dreck und zu der Erkenntnis, daß sie andere Wege finden muß, „gewollt zu werden“. Deswegen kalkuliert Ilona, auf dem Boden der leergeräumten Wohnung liegend, verbissen Kosten und Kredite für ein eigenes Restaurant. Sie tut sich – tatsächlich – mit dem Kollektiv des „Dubrovnik“ zusammen, selbst den versoffenen Koch holt man aus der Gosse. Hier wird eine gebrauchte Bar aufgetrieben, da stehen noch ein paar Stühle von einem Konkurs herum. Das neue Restaurant wird nach dem benannt, was in den letzten Monaten am wichtigsten für alle und doch nicht zu haben war: „Arbeit“.
Das ist schon ein toller Einfall. Ilonas Stärke ist weniger eine Referenz an ein idealisiertes Frauenbild als eine des Regisseurs an Outinens Präsenz, und auch um Arbeit und deren Verlust geht es bei Kaurismäki nicht ausschließlich. „Ich konnte diese Rezession nicht beschreiben, indem ich ein Tagebuch eines Arbeitslosen entworfen hätte, in dem der böse Arbeitgeber das Problem ist... Ich mußte mir etwas ausdenken, was Allgemeingültigkeit hatte.“ Die amerikanische Autorin Marion Winik schreibt, daß einen nichts so sehr langweile wie das Glück anderer Leute, doch nicht nur unter diesem Aspekt betrachtet ist „Wolken ziehen vorüber“ ein sehr unterhaltsamer Film. „Wenn man einen Film auf einer minimalistischen Ebene anlegt, ist selbst ein Hüsteln dramatisch“, so Kaurismäki, dessen neuer Film weitgehend von lärmiger Lustigkeit befreit ist, was ihn umso tragisch-komischer macht. Nun fallen bei Kaurismäki ja nie viele Worte, das ist – siehe Outinen – auch nicht notwendig. Gemeinsam bangt der Zuschauer mit dem Kollektiv „Arbeit“ am Eröffnungstag, ob überhaupt Gäste kommen. Jeder Passant wird mit den Augen angefleht.
Wenn Leute nach einem Rollenmodell suchen, daß ihnen nicht einfach Identifikation ermöglicht, sondern die Mühen der Selbstorganisation in Krisenzeiten vorführt, sind sie in Kaurismäkis Film richtig. Dazu fällt mir noch eine Werbekampagne ein, die derzeit in den USA läuft. Gezeigt wird ein altes Foto eines kleinen, schwarzen Mädchens mit Zöpfen, darunter folgende Textzeile: „Sie ist heute Ärztin, weil ihre role models keine Models waren.“ Während der Filmfestspiele in Cannes zog sich Aki Kaurismäki geniert die Jacke über den Kopf, weil ihm für „Wolken ziehen vorüber“ so heftig applaudiert wurde. Es ist schon eine komische Sache mit dem Mut und der Künstlermoral.
„Wolken ziehen vorüber“. Regie: Aki Kaurismäki. Mit Kati Outinen, Kari Väänänen. Finnland 1996
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen