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■ Der LesetipVon Sammlern, Räubern und Gelehrten

Rettung und Raub genetischer Ressourcen sind Themen, die spätestens seit der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro 1992 weltweit diskutiert werden. Der Hamburger Wirtschaftsgeograph Michael Flitner unterzieht in seinem Buch Sammler, Räuber und Gelehrte diesen bislang wenig beachteten Ressourcenkonflikt erstmals einer ausführlichen Analyse. Dabei läßt er sich von der Intuition leiten, daß an dem eigenartigen „Rohstoff“ lebender Organismen sowohl das Rohe wie auch das Stoffliche historisch konstruiert sind und nicht dem Gegenstand als solchem anhaften. Flitner möchte „materialistische“ Auffassungen des Verhältnisses von Politik, Gesellschaft und Natur zugunsten einer Analyse der wechselnden diskursiven Formationen vermeiden, innerhalb derer genetische Ressourcen überhaupt erst in Erscheinung treten und sich als Objekt politischer Begierden profilieren können. Moderne Praktiken des Sammelns von Pflanzen werden in Bezug gesetzt zu zeittypischen wissenschaftlichen Theorien und ideologischen Leitbildern, die jeweils neue Wahrnehmungs- und Bedeutungszonen eröffnen. Weit mehr als die Hälfte des Buches widmet sich Flitner der Untersuchung der „deutschen Biopolitik“ seit den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts, als Sammelexkursionen erstmalig im Kontext kolonialer Expansionspläne unternommen wurden. Mit der Entstehung der Genetik und der Einführung der planmäßigen Kombinationszüchtung vor dem Ersten Weltkrieg begann die weltweite Suche nach Kreuzungspartnern für die „Höherzüchtung“ heimischer Nutzpflanzen. Im ideologischen System der Nationalsozialisten scheint die Suche nach pflanzenzüchterischen Landrassen eine ähnliche Stelle besetzt zu haben wie die zivilisationskritisch propagierte „Rückkehr aufs Land“ als Element eines übergeordneten Modernisierungsprogrammes.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges entsteht ein neues pflanzenpolitisches Dispositiv, das gekennzeichnet ist durch die Molekulargenetik und Hybridzüchtung, den Aufstieg der US- amerikanischen Saatgutindustrie, den paternalistischen Diskurs der wirtschaftlichen „Unterentwicklung“ des Südens und schließlich die Sorge um den Verlust der genetischen Vielfalt. Mit der FAO wird erstmals eine multilaterale Organisation im Bereich Landwirtschaft und Ernährung ins Leben gerufen, während zugleich Stiftungen und Privatfirmen eine wachsende Rolle in der internationalen Zusammenarbeit spielen. Die Moral von der Geschichte? Auch ganz gewöhnliche, harmlos aussehende „Natur“-Produkte „wurzeln“ in historischen Konflikten: Nicht nur Staaten oder Parteien, sondern auch Raps und Rüben sind als politisch konstituierte Gegenstände zu begreifen. Mit Blick auf die internationale Konferenz der FAO, die Mitte Juni in Leipzig stattfinden wird, bietet das Buch einen informativen Einstieg in die aktuelle Debatte um die genetischen Ressourcen. Volker Heins

Michael Flitner: „Sammler, Räuber und Gelehrte. Die politischen Interessen an pflanzengenetischen Ressourcen 1895–1995“, Campus Verlag, 1995, 336 Seiten, 38 DM

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