: Das Sonntagsvergnügen
Eine kleine Geschichte des Kinos auf dem Land: Ausflüge im Kreis Viersen ■ Von Charlotte Tillmann
Im Jahre 1921 hatte der Unternehmer Christian Jansen aus Kempen sechs Kinder und ein Kino. Zuwenig, befand der Familienvater – und gründete so viele Kinos in der Umgebung, bis seine Kinder alle versorgt waren. „Der Mann hatte echten Unternehmergeist! Heute würde so einer wahrscheinlich eine Pommeskette gründen“, schwärmt Enkel Alfred Straeten. Straeten ist Besitzer des Astra-Kinos in Lobberich, einem kleinen Ort im Kreis Viersen, nahe der holländischen Grenze. Neben dem Astra sind die Kempener Lichtspiele das einzige Kino, das im Familienbesitz geblieben ist.
In den kleinen Orten des Kreisgebiets war das Kino nur langsam zu einem Volksvergnügen geworden: In den 30er Jahren wurden zuerst Tanzsäle in Kinosäle umgewandelt. In der Gaststätte Königsburg in Süchteln etwa zeigte der Gau-Filmdienst Propagandastreifen wie Martin Riklis „Straße ohne Hindernis“, ein Werbefilm für den Autobahnbau, oder Leni Riefenstahls „Triumph des Willens“.
Nach dem Krieg griffen viele Gastwirte diese Form der Filmvorführung auf und statteten den Tanzsaal hinter ihrer Kneipe mit Stuhlreihen, Bühne, Leinwand und Vorführgerät aus, sehr zur Bereicherung der örtlichen Kultur: „Nach hier kamen die ganz Großen von Willy Millowitsch bis Camilla Horn und sogar Stars aus Amerika“, erzählt Heinz Jentges, ehemaliger Besitzer des Rex in Viersen. Ein Mann, der als Nachbar des Kinos in Hinsbeck dessen Blütezeit in den fünfziger und den Untergang in den sechziger Jahren erlebt hat, erinnert sich: „Die Woche über haben wir gespart und dann war der Kinobesuch unser Sonntagsvergnügen. ,Der Tiger von Eschnapur‘ und ,Das indische Grabmal‘ – da kommen die Filme von heute doch nicht dran.“
Damals waren Kinos mit mehr als 500 Plätzen, wie das Rex in Viersen oder das Grenzland-Theater in Dülken, im Kreisgebiet keine Seltenheit. 3-D-Brillen und Bioskopleinwände lockten als besondere Attraktionen – und wenn kein Film gezeigt wurde, standen die Bühnen für Theatervorführungen zur Verfügung.
In Neersen, wo in den fünfziger Jahren Kino- und Kircheneingang nur durch eine Einfahrt voneinander getrennt lagen, erinnert sich ein Bauarbeiter, der den ehemaligen Kinovorplatz gerade zu einem Garagenhof umbaut, an den größten Filmskandal der fünfziger Jahre: „Rechts, hier im Schaukasten, war die Plakatwerbung für ,Die Sünderin‘ mit der Knef angebracht. Und direkt hier links, gegenüber der Kirchenwand, gab es Protestanschläge der Kirchenoberen gegen diesen Film.“ Eine Nacktszene, die nur wenige Sekunden dauerte, teilte die Neersener in ein Kirchen- und ein Kinolager.
In den sechziger Jahren begann das große Kinosterben auf dem Land. Von 30 Kinos im Kreis Viersen sind drei übriggeblieben: das Astra in Lobbrich, das Corso in Kaldenkirchen und die Kempener Lichtspiele. Ein viertes Kino, das Kinocenter in Viersen, wurde 1982 neu errichtet.
Die Begeisterung der hiesigen Kinogänger über die guten alten Zeiten schwingt auch noch nach 40 Jahren bei jedem Gespräch deutlich mit. Dagegen erinnern sich die ehemaligen Kinobesitzer nur ungern an die fünfziger und frühen sechziger Jahre, die „goldenen Zeiten“ des Kinos, auch auf dem Lande. „Ich wollte damals nicht schließen, deshalb erinnere ich mich nicht gerne an diese Zeit“, wehrt Theodor Welter ab, der das Grenzland-Theater vom Gründungsjahr 1951 bis 1982 führte.
Nach Erklärungen für das große Kinosterben braucht man nicht lange zu suchen: „Das Fernsehen hat alles kaputtgemacht“ – da sind sich die ehemaligen Kinobesitzer und -gänger einig. Tatsächlich erlebte die Kinolandschaft ihre erste Pleitewelle nach der Einführung des Fernsehens. Das Farbfernsehen zog eine erneute Schließungswelle nach sich, und schließlich, nachdem das Videogeschäft boomte, mußten weitere Kinos dichtmachen.
Traurige Überreste der Blütezeit des Kinos auf dem Lande finden sich im Kreisgebiet allerorten. In Viersen ist aus der Großen Schauburg ein Kaiser's Markt geworden, im ehemaligen Scala befindet sich der Textilmarkt Kik, und im früheren National verkehren heute Billardspieler. Zum Teil wurde so gründlich renoviert, wie etwa in Anrath, wo ein Schlecker- Markt in das ehemalige Kino einzog, daß sich selbst die Einheimischen kaum mehr an den einst so glamourösen Kinosaal erinnern können.
Dann wieder findet man im ehemaligen Corso in Grefrath oder im Odeon in Willich Leinwand, Vorführgeräte, Decken- und Wanddekoration und sogar ganze Stuhlreihen, die den Wandel der Zeiten unbeschadet überstanden haben. Kinos mit Riesenleinwand und Sitzplätzen für mehrere hundert Personen gibt es im Kreisgebiet heute nicht mehr. Doch die vier übriggebliebenen Kinos haben immer noch etwas zu bieten: Alle liegen im Stadtzentrum, sind also leicht erreichbar, und sie sind, anders als die Kinosupermärkte auf der grünen Wiese, Familienunternehmen. Zwar teilten die Kinobesitzer auch hier die Vorführräume und verkleinerten die Leinwände, um konkurrenzfähig zu bleiben. Aber die Aufmachung aller vier Kinos spiegelt die persönliche Note ihrer Besitzer wider.
„Heute“, erklärt Arnold Straeten, „läuft ein Kino auf dem Land nur, wenn man sich technisch und innenarchitektonisch auf das Publikum einstellt und die richtigen Filme auswählt.“ Damit meint er Kassenschlager – Einheitsware eben. Sein Kino hat auf diese Weise drei große Schließungswellen überlebt, aber er sieht seine Existenz schon wieder bedroht: durch die geplanten „Cinemaxtempel“, wie er sie nennt, in Duisburg, Krefeld und Mönchengladbach. Arnold Straeten hat sich jetzt eine neue Überlebensstrategie ausgedacht: Dienstags ist der „Tag des besonderen Films“. Für ein anspruchsvolles Publikum. Wer sagt, daß es das auf dem Land nicht gibt?
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