: Jacquet sagt ja zum Team und nein zu Cantona
■ Berti Vogts' „Topfavorit Nummer 1“: Kurz vor einem möglichen Höhepunkt hat Frankreichs Fußball seine Heimbasis verloren – die Besten fliehen vor dem Fiskus
Ein kurzes englisches No prangte kürzlich auf der Titelseite von France Football. Darüber sah man die Fotos zweier Spieler, die manch ein Trainer bei der EM gerne in seinem Team hätte: Eric Cantona (Manchester United) und David Ginola (Newcastle United). Obwohl „Canto“ United zum Double geschossen hatte, blieb Nationaltrainer Aimé Jacquet hart: „Cantona paßt nicht in mein System, ich müßte die Mannschaft, die sich über Monate gefunden hat, total um- und auf ihn einstellen.“
Noch vor einem Jahr stand Jacquet, ein Mann ohne Charisma, in der Kritik. Die „Equipe Tricolore“, die schon die WM 1994 in den USA durch ein 1:2 gegen Bulgarien verpaßt hatte, drohte auf dem Weg nach England erneut zu scheitern. Viele dachten bereits wieder an den Spott von Libération, die im November 1993 getitelt hatte: „Frankreich für die WM 1998 qualifiziert!“
In einer schweren Qualifikationsgruppe drohte lange das Ausscheiden und ein immenser Imageverlust für den Veranstalter der nächsten WM. Michel Platini, einer der beiden Direktoren des WM-Organisationskomitees, wandte sich mit Grausen: „Das ist keine Mannschaft!“ Und der Alt- Internationale Just Fontaine forderte unverblümt den Kopf des „profillosen Jacquet“.
Doch der ging unbeirrt seinen Weg. Gegen Polen wechselte er, beim Stand von 0:1 kurz vor seiner Entlassung, Youri Djorkaeff ein, der prompt den Ausgleich erzielte. Danach, beim entscheidenden Spiel in Bukarest, spielte eine Elf auf, die befreit wirkte vom Trauma des neuerlichen Versagens. Mit dem 3:1 gegen den jetzigen EM- Gruppengegner Rumänien wurde alles klar gemacht.
Jetzt ist das Team seit 22 Spielen ungeschlagen, hat zuletzt das DFB-Team nicht nur 1:0 besiegt, sondern ihm dabei teilweise modernen Fußball vorgeführt. Und Bundestrainer Berti Vogts sagt: „Ja, klar, die Franzosen sind Topfavorit.“ Woher kommt's, daß Frankreichs Fußball nur zweieinhalb Jahre nach dem Tiefpunkt wieder obenauf ist, das Nationalteam EM-Mitfavorit und man zudem mit zwei Mannschaften in den Europapokal-Endspielen stand? „Der französische Fußball ist technisch sehr stark und hat physisch enorm aufgeholt“, sagt Bordeaux Extrainer Gernot Rohr und weist darauf hin, daß „alle Mannschaften in der Premier Division mit der Viererkette spielen. Die Franzosen agieren, sind offensiv. Man denkt mehr an sein eigenes Spiel, als destruktiv zu sein.“ Diese Philosophie lernen die jungen Spieler schon mit 15 Jahren in den „Centres de formation“ ihrer Klubs, wo sie unterrichtet, verpflegt und betreut werden. So ist es in Auxerre nichts Besonderes, wenn die Profis ein Trainingsspielchen gegen die Jungs aus dem Internat absolvieren. Viele von ihnen sind den gleichen Weg gegangen. Über die B-Teams ihrer Klubs, die meist in der 4. Divison (National2) mitmischen, werden die Jungen an die Profis herangeführt. Doch Noel Le Graet, der Präsident der Profiligen Frankreichs, schlägt Alarm. Und nicht nur er. „Trop, c'est trop“ – zuviel, das ist zuviel, titelte France Football letzte Woche, denn Frankreichs Klubfußball steht, kaum zu europäischen Ehren gekommen, vor dem Exodus. Noch nie verließen so viele hervorragende Spieler auf einmal das Land. Nach Marcel Desailly (AC Mailand), Didier Deschamps (Juventus Turin) und Alain Boghossian (SSC Neapel) wechseln auch Youri Djorkaeff und Jocelyn Angloma (beide zu Inter Mailand), Pierre Laigle (zu Sampdoria Genua), Zinedine Zidane (zu Juventus Turin) und Lilian Thuram (zum AC Parma) in die SerieA.
Das liegt vor allem an der französischen Steuergesetzgebung: Den Profis bleiben nur 40 Prozent ihres üppigen Salärs. In Italien müssen sie dagegen höchstens 35 Prozent Steuern und Abgaben zahlen. Den gleichen Vorteil bietet auch Spanien: Deshalb verlassen Laurent Blanc und Corentins Martins den Double-Gewinner AJ Auxerre und folgen dem Ruf des FC Barcelona bzw. von Deportivo La Coruna. Und im Selbstbedienungsladen à la bordelaise war auch Athletic Bilbao erfolgreich um den französischen Basken Bixente Lizarazu.
So muß sich Aimé Jacquet in Zukunft auf Reisen begeben, um seine Nationalspieler zu sehen. Zuvor geht es erst einmal nach Newcastle und Leeds, wo Bulgarien, Rumänien und Spanien die EM- Gegner sind. Beklagt über ihre schwere Gruppe haben sie sich – anders als die Deutschen – nicht. Günter Rohrbacher-List
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