■ Das Watt, jahrelang als Kläranlage mißbraucht, kippt um: Relativ ratlos
Abgestorben, umgekippt ist das Wattenmeer auf quadratkilometergroßen Flächen zwischen Ostfriesland und den vorgelagerten Tourismusinseln. In diesem Jahr sind es keine kleinen, schwarzen Flecken mehr, sondern riesige nach Schwefelwasserstoff stinkende „schwarze Flächen“. Dort verenden jetzt auch die größeren Tiere, die, wie bestimmte Muscheln oder Würmer, im Wattboden leben. Das niedersächsische Umweltministerium steht „relativ ratlos“ vor diesem neuen Phänomen und will erst mal die einschlägigen Wattexperten, Biologen und Ökologen, zusammenrufen.
Doch diese haben in den Jahren zuvor immer wieder erklärt, daß es ein Wunder sei, daß das Watt die Umweltbelastung ohne Katastrophe überstehe. Ihre bange Frage lautete schon seit langem: Wie wird das Ökosystem Wattenmeer mit der ständigen Überdüngung fertig, ohne darauf gravierend zu reagieren?
Jetzt reagiert dieses weltweit einzigartige Ökosystem, das nicht nur für Millionen Vögel unersetzbar ist. Vom Watt lebt die ostfriesische Tourismusindustrie, ebenso die Hochseefischerei, deren Speisefische dort ihre Kinderstube haben. Und nicht zuletzt waren die Sand- und Schlickflächen vor der Küste bisher auch unsere „Kläranlage“, in der unser Abfall, die Nährstoffe aus Flüssen und Luft, biologisch abgebaut wurde. Diese kostenfreie Kläranlage wurde seit Jahrzehnten mit Nährstoffen gefüllt, deren Ursprung bekannt ist: Über die Flüsse wird das Watt permanent durch Landwirtschaft und ungeklärte Abwässer gedüngt, und für die immense Schadstoffbelastung aus der Luft ist vor allem der Autoverkehr verantwortlich.
Die sich anbahnende Ökokatastrophe im Watt ist das Resultat verfehlter Umweltpolitik und einer Vielzahl von Ursachen. Gewiß hat auch das Muschelsterben im Watt, das dem diesjährigen Eiswinter wieder einmal folgte, für zusätzliche verfaulende Biomasse gesorgt. Doch solange die ostfriesischen Wattführer zurückdenken können: Eiswinter hat es schon oft gegeben, schwarze Flächen noch nie.
Mit neuen Kläranlagen allein ist die Überdüngung des Watts längst nicht mehr zu beseitigen, denn dort sind über Jahrzehnte Nährstoffe akkumuliert worden. Umkehr ist nicht in Sicht. Und deshalb auch wenig Hoffnung, daß die schwarzen Flächen in Zukunft verschwinden werden. Wir werden sie sehen: alljährlich. Jürgen Voges
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