: Küßt seinen kahlen Kopf!
■ Das 2:1 über Rußland gibt dem wie stets angezweifelten Taktiker Arrigo Sacchi recht: Der Star ist auch bei Italien die Mannschaft, und die ist wohl organisiert
Liverpool (taz) – Und jetzt alle, auch ihr dahinten in Sizilien und der letzten Reihe: Der Star ist die Mannschaft! Der Star ist die Mannschaft! Der Star ist...! Es gibt eine wunderbare EM-Verheißung vom Trainer der italienischen Fußballer: „Sie werden entweder mit Tomaten auf mich zielen, oder mich über meinen ganzen kahlen Kopf küssen.“
Es ist aber natürlich alles noch viel intensiver. Die Tomaten waren praktisch schon Richtung Glatze unterwegs, ehe sie sich in Liverpool im Flug in Küsse verwandelt haben. Keiner hat verstehen wollen, warum Arrigo Sacchi (50) gegen die Russen nicht Fabrizio Ravanelli hat stürmen lassen, den vielgerühmten Torschützen bei Juventus' Champions-League- Sieg über Ajax. Sondern Pierluigi Casiraghi (27). Das Ergebnis aus Sicht des Stürmers von Lazio Rom: „Es war der Höhepunkt meiner Karriere. Im ersten Spiel in so einem Stadion zwei Tore zu erzielen, das ist einfach großartig.“
Italien hat Rußland 2:1 geschlagen, weil Casiraghi neben einem bemerkenswerten, aber knapp danebengehenden Hackentrick mit seinen Chancen ökonomisch perfekt umgegangen ist. Zweimal wurde er perfekt bedient (von Di Livio und Zola), zweimal drehte er sich und schoß den Ball ohne eine weitere unnötige Berührung einfach in das von Stanislaw Tschertschessow gehütete Tor.
Man hatte nicht den Eindruck, daß Italien ein prima Spiel hinlegte, man sah aber sehr wohl, daß das Team organisiert ist. Italien hat Rußland geschlagen, weil in Sacchis 4-4-2 jeder seine Arbeit macht, aber kaum Fehler. Die Russen dagegen hatten bemerkenswerte einzelne Angriffe, schön anzusehende Soli von Kantschelskis und nach der Pause Kirjakow gegen Paolo Maldini. Aber, sagte Everton- Spieler Kantschelskis: „Wir hatten einige Fehler im System.“ Genau das aber darf man nicht, wenn man bei dieser EM mitspielen will. Die beiden, die Tschertschessow und Onopko unterliefen, wurden bestraft. Die einzigen waren es nicht.
Italien hatte eine „schwache erste Hälfte“, fand selbst Sacchi. Das ist nichts Neues, sagte sein Kapitän Maldini, der dazu einiges beigetragen hatte, doch verständlicherweise nicht näher darauf eingehen mochte. Die schnellen Kantschelskis und Kirjakow spielten den angeblich „besten Verteidiger der Welt“ (Kantschelskis) permanent aus, ohne damit allerdings Effizienz zu erzielen. Die über Europa verteilten russischen Profis, so hatte es den Anschein, sind sich auf dem Platz zu fremd – und haben ihre Rollen nicht hundertprozentig definiert.
Bei den Italienern ist das anders: Weil Juventus-Star Del Piero seine im linken Mittelfeld nicht auszufüllen vermochte, mußte die Kreativkraft zur Hälfte weichen. Das Ergebnis: Italien arbeitete genauso weiter, wurde dabei aber kreativer und erspielte sich insbesondere durch den bemerkenswerten Gianfranco Zola Chancen. Zola legte einmal wunderbar auf für den eingewechselten und frenetisch begrüßten Ravanelli – doch der Juventus-Stürmer bewegte sich schwerfällig durch den leeren Strafraum und murmelte dann den Ball nur an. Danach verstolperte er gleich noch einmal.
Kein Wunder eigentlich: „Casiraghi ist prächtig in Form“, hatte Sacchi zuvor angeordnet, als jener selbst vom Einsatz „überrascht“ worden war. Keine Fragen mehr nach Vialli, Signori und Baggio, bitte! Der Star ist das System. Andererseits: „Wenn unser System funktioniert“, sagte Sacchi, um Spieler und Landsleute die bisweilen trockene Kost schmackhaft zu machen, „dann können auch einzelne Spieler erblühen.“ Er nannte zwei: Zola und Casiraghi.
Ein kleines Problem könnte sich nun vor dem samstäglichen Spiel gegen die Tschechen ergeben: Weil, wie Babbel immer sagt, „der Fußball schnellebig ist“, ist Casiraghi nun nach seinen Länderspieltoren neun und zehn natürlich ein veritabler Star. Das soll ein Problem für Sacchi sein? Armer Pierluigi! Der Römer ahnt schon etwas. „Wir haben vier Weltklasse- Stürmer“, hat er vorbeugend gesagt, „und das zweite Spiel innerhalb von drei Tagen. Da kann es schon sein, daß wir rotieren müssen, auch wenn einer zwei Tore geschossen hat.“ Auch? Gerade dann. Peter Unfried
Rußland: Tschertschessow - Buschmanow (46. Janowski) - Onopko, Tetradse, Kowtun - Kantschelskis, Karpin (63. Kirjakow), Radimow, Mostowoi, Zimbalar (71. Dobrowolski) - Kolywanow
Zuschauer: 35.120
Tore: 1:0 Casiraghi (5.), 1:1 Zimbalar (21.), 2:1 Casiraghi (52.)
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen