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■ Hat der Sozialstaat eine Zukunft? (5) Das vielgerühmte „Job-Wunder“ in den USA bedeutet: Kapitalismus purNeues aus der Wolfsgesellschaft

In den USA sind seit Januar 1993 sieben Millionen Arbeitsplätze geschaffen worden – und angesichts der anhaltenden Arbeitslosigkeit in Europa fragen sich natürlich viele, ob sich das amerikanische Modell nicht übertragen ließe. Die Antwort lautet mit Sicherheit ja – falls die Europäer bereit sind, die Realitäten dieser Expansion unserer Arbeiterschaft zu akzeptieren. Dazu gehören viel Teilzeit- und vorübergehende Arbeit, eine anhaltende Absenkung der Einkommen des größten Teils der Beschäftigten, eine schwächere Durchsetzung unserer ohnehin niedrigen Normen für Gesundheit und Sicherheit im Beruf und die nagende Furcht bei vielen Beschäftigten vor jederzeit drohenden Kündigungen.

Was ist aus dem Sozialvertrag geworden, der unser Land einmal so reich gemacht hat? In den vierziger, fünfziger und frühen sechziger Jahren arbeitete ein Drittel unserer Arbeitskräfte in der Industrie und war gewerkschaftlich organisiert. Inzwischen ist die Zahl der Beschäftigten von 60 Millionen auf weit über 100 Millionen angestiegen, und lediglich 15 Prozent der Beschäftigten im öffentlichen Sektor und 11 Prozent im Privatsektor gehören noch Gewerkschaften an. Diese Schwäche der Arbeiterorganisationen – nicht die magnetische Kraft des Kapitalismus – vermag zu erklären, warum die Amerikaner die hemmungslose Rationalisierung des Arbeitsmarktes resigniert hinnehmen. Und ebendiese Rationalisierung, unbelastet von sozialen Rücksichten (oder moralischen Skrupeln), gestattet eine ökonomische Expansion, die jederzeit wieder verschwinden kann.

Natürlich ist die Beteiligung am Arbeitsmarkt in hohem Maße ungleich: Schwarze und Hispanics, die Schlechtausgebildeten aller Rassen, unqualifizierte Frauen sind in besonders hohem Maße arbeitslos oder werden brutal ausgebeutet. Wir brauchen absolut nicht nach Indonesien oder auch nur nach Mexiko zu gehen, um die klassischen sweat shops zu sehen, in denen unterbezahlte Einwanderer für lächerliche Löhne schuften. Die finden sich direkt neben den Hotels der europäischen Touristen in Los Angeles und New York. Die USA kennen keine Gleichheit hinsichtlich der Ausbildung. Hier existiert eine Ausbildungspyramide mit Universitäten der Spitzenklasse – und miserabel ausgestatteten Schulen an der Basis (mit Ausnahme der wohlhabenden Vororte). Wir verfügen über kein nationales System der Berufsausbildung oder Umschulung. Eine neuere Untersuchung schätzt den Anteil der Beschäftigten, die für die wissensabhängigen Arbeitsplätze von morgen in Frage kommen, auf 40 Prozent. Selbst jene mit besserer Ausbildung erleben nun eine Arbeitssituation voller Unterbrechungen und Unsicherheit – und sinkende Einkommen. Präsident Clinton und sein kluger Arbeitsminister, der Harvard-Professor Robert Reich, sprechen unaufhörlich von der Verantwortung der Regierung, die Amerikaner für die guten Arbeitsplätze von morgen auszubilden. Das Morgen verschwimmt jedoch am historischen Horizont: Keine Gesellschaft ist derzeit intellektuell und institutionell schlechter gerüstet, zusammenhängend auf den neuen Arbeitsmarkt zu reagieren.

Und wie steht es mit dem amerikanischen Wohlfahrtsstaat? Wir haben ja einen, auf der Grundlage der Reformen des New Deal und Johnsons „Great society“ (die Nixon fortführte). Er hatte zwei Komponenten. Der öffentliche Sektor kennt eine allgemeine Altersversicherung (social security) und Gesundheitsversicherung für die über 65jährigen (Medicare). Das sind Programme, die von gewaltigen Mehrheiten der amerikanischen Wähler getragen werden, und Clinton verdankt seinen derzeit sicheren Vorsprung im Rennen um die Präsidentschaft seiner entschiedenen Verteidigung des Mindestwohlfahrtsstaats. Dagegen sind Hilfsprogramme für die Verarmten, Investitionen in Gesundheit und Ausbildung und eine Arbeitslosenversicherung heftigen Angriffen ausgesetzt. Die Ideologen der Wirtschaft und des Aktienmarktes verbreiten voller Eifer die absurde Vorstellung, der Bundeshaushalt müsse ausgeglichen sein – in Wirklichkeit geht es ihnen um die vollständige Vernichtung des Wohlfahrtsstaates. Sie können sich dabei auf die schwer bedrängten Normalbürger verlassen, die keine Steuern zur Unterstützung der (wie sie glauben) arbeitsscheuen Armen zahlen wollen.

Dabei merken sie nicht, daß in den letzten Jahrzehnten und vor allem seit Reagan die großen Konzerne und die Reichen einen geringeren, die mittleren und unteren Schichten der Gesellschaft einen größeren Anteil der Steuerlast tragen. Darüber wird in unseren Fernsehkanälen, die großen Konzernen gehören, nicht viel gesprochen.

Es gibt einen zweiten, privaten Wohlfahrtsstaat. Gesundheitsversicherung und bessere Pensionen wurden für die normalen Amerikaner von den Gewerkschaften erkämpft und sind vor allem in den Mittelklasseteilen des privaten Sektors verbreitet. Die Medizin ist ein Wirtschaftszweig, der gegen die Nationalisierung kämpft – daher ist für den größten Teil unserer Bevölkerung unter 65 Jahren (darunter auch jedes vierte Kind, das arm ist) die medizinische Versorgung kein Bürgerrecht, sondern ein mit dem Arbeitsplatz verbundenes Privileg. Und dieses Privileg wird auf dem neuen Arbeitsmarkt immer weiter abgebaut.

Vielleicht ist die wachsende Ungleichheit zwischen Reichen und Armen gar nicht einmal das auffallendste Merkmal der US-Gesellschaft. Sondern: die scheußliche Atmosphäre des Sozialdarwinismus, der panische Kampf aller, die sich schwach fühlen, gegen die noch Schwächeren. Amerikaner begreifen sich selbst gern als „individualistisch“ und „frei“. In der Grundschule sozialer Beziehungen, auf dem Arbeitsmarkt, sind die Amerikaner indes desorientiert, unterwürfig und ängstlich. Sie akzeptieren das Diktat des Kapitals als Naturgesetz – und in den Familien sind die Erinnerungen an die sozialen Kämpfe des New Deal verlorengegangen. Man sagt ihnen, Europa wolle nicht aufgeben, was in den amerikanischen Medien als allzu großzügiger Wohlfahrtsstaat beschrieben wird. Die Verteidigung des europäischen Wohlfahrtsstaates mittels einer Reform, die die Werte sozialer Solidarität und moralischer Kontrolle über den Markt zu bewahren vermag, hätte bedeutende politische Auswirkungen auf die USA. Zur Zeit ist es von dieser Seite des Atlantiks her sehr schwer zu erkennen, warum manche Europäer unser Modell als beispielhaft rühmen. Norman Birnbaum

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