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Europa, ein riesiges Pulverfaß?

■ Ex-Jugoslawien ist ein radikales Beispiel. Aber auch die demokratischen Länder haben ihre Probleme mit Autonomiebewegungen. Und in der Ex-UdSSR brodelt es

So recht glauben mögen Europas Politiker es noch immer nicht: Bewegungen wie die sezessionistische „Liga Nord“ in Italien könnten die Vorhut einer Entwicklung sein, die über kurz oder lang nicht nur notorisch instabile Länder erfaßt, sondern auch bisher stramm zum Nationalstaat stehende Gemeinwesen. Noch immer herrscht bei Europas Regenten und auch in den Massenmedien der Tenor vor, der Zerfall Jugoslawiens sei vor allem jahrzehntelang aufgestautem, nur durch die starke Hand des Staatsgründers Tito unterdrücktem Haß geschuldet, der ungesunden Vorherrschaft der einen über die andere „Ethnie“ im Gesamtstaat. Umkehrschluß: In einer Demokratie wäre das nicht passiert.

Doch auch demokratische Länder haben ihre Probleme mit Autonomie- und teilweise sogar Sezessionsbewegungen: England mit der nordirischen IRA und Spanien mit der ETA sind da nur die spektakulärsten Beispiele. Hier lautet die Selbstberuhigung der anderen Europäer üblicherweise, daß es sich entweder um einen antiquierten Religionskrieg handelt, der eigentlich niemandem mehr zu vermitteln ist, oder daß die betreffenden Zentralregierungen wohl den „richtigen“ Zeitpunkt für eine friedliche Lösung verpaßt haben. Die Drohung der italienischen Liga Nord zur vollständigen Abspaltung wird daher von EU-Politikern allenfalls zum Anlaß für eine Ermahnung an die Regierung in Rom genommen, nicht ebenfalls Chancen zur Erledigung der Forderungen mit Hilfe einiger Zugeständnisse zu verschlafen.

Doch wer sich die Landkarte Europas ansieht und die einzelnen Regionen, in denen Autonomiebewegungen bestehen oder gar sezessionistische Forderungen immer massiver erhoben werden, bekommt eher den Eindruck, daß hier mehr dahintersteckt als nur ein Aschenputteldasein bestimmter Provinzen oder eine Aufstachelung ethnischer Minderheiten durch Nachbarvölker. Der Regionalismus scheint sich eher zu einem schon bald flächendeckenden Problem zu entwickeln, unabhängig von der Staats- und Regierungsform.

Deutschland nimmt derlei bisher vor allem deshalb nicht wahr, weil es hierzulande aufgrund der erst frischen Wiedervereinigung noch keine ausgeprägte Sezessionsbewegung gibt – trotz manchen Wetterleuchtens etwa im Süden und im Osten. Ein Blick auf die anderen Länder zeigt jedoch, daß keines ganz verschont ist von Versuchungen in Richtung Auflösung des bisherigen Staates.

England zum Beispiel hat nicht nur seine Probleme mit Nordirland. Auch in Wales und in Schottland machen sich längst Bewegungen breit, die mehr Autonomie, im radikalsten Falle gar Abtrennung von London verlangen, so etwa die Scottish Nationalist Party (vgl. Artikel auf Seite 13). Jahrelang drohten einzelne sogar in Terrorismus auszuarten, Ferienhäuser von Engländern wurden bereits abgefackelt. 70 Prozent der Schotten und gar 80 Prozent der Waliser sprechen sich nach Meinungsumfragen heute dafür aus – 1979 noch waren es lediglich 25 Prozent.

Frankreich schleppt seit Jahren sein Problem mit Korsika herum; dort gibt es eine regelrechte Unabhängigkeitsbewegung (Front de libération national corse, FLNC). Militante Verfechter der Unabhängigkeit machen mit Sprengstoffanschlägen auf Häuser von Festlandsfranzosen und Einrichtungen der Regierung auf sich aufmerksam (siehe Seite 13).

Auch im Norden, im Osten, im Süden gibt es Forderungen nach Autonomie. In der Bretagne, wo sich nach dem Krieg Autonomiebestrebungen zeigten, herrscht zwar seit zwei Jahrzehnten Ruhe. Dafür aber hat sich im vergangenen Jahr in Savoyen eine Bewegung gegründet, die sich mehr oder minder an die benachbarten Ligen Italiens anhängen möchte.

Auch im französischen Teil des Baskenlandes beginnt sich die Autonomiebewegung stärker bemerkbar zu machen, auch wenn sie bisher noch weitgehend friedlich erscheint. Hier könnte die Unabhängigkeitsbewegung des spanischen Teils eines Tages bedrohlich herüberschwappen – die französische Regierung hat 1995 bereits vorbeugend Exempel statuiert und hierhergeflohene ETA-Aktivisten an Spanien ausgeliefert.

Auch in Spanien selbst macht nicht nur die sprengstoffreiche baskische Unabhängigkeitsbewegung von sich reden – auch die Katalanen fordern Autonomie, freilich weniger durch Attentate als durch beharrliche politische Forderungen der Convergència i Unió, denen der Regionalpräsident Jordi Pujol vorsteht.

Im mittleren Teil des Kontinents haben sich Tschechien und die Slowakei zwar friedlich getrennt. Doch nun gärt es im Süden der Slowakei, wo eine ungarische Minderheit (fast 11 Prozent der Bevölkerung) ihre Eigenständigkeit betont und Anschluß an Ungarn fordert – ebenso wie übrigens in Rumänien, wo in Transsylvanien etwa eineinhalb Millionen ungarnstämmige Menschen leben.

Noch unübersichtlicher wird die Lage auf dem Balkan, auch wenn man die Neuordnung und die „ethnischen Säuberungen“ in Ex-Jugoslawien beiseite läßt: Kosovo- Albaner, derzeit in die montenegrinisch-serbische Föderation eingebunden, wollen zu Albanien gehören. Doch im Süden wollen die Nord-Epiräer los von Albanien und heim ins Griechen-Land.

Weiter östlich und nördlich dann das ganze Arkanum ungelöster ethnischer Konflikte: die Türkei mit ihren Kurden, die auch vom Iran und vom Irak unterdrückt werden, im Süden der ehemaligen Sowjetunion, von Tschetschenien über die Südosseten in Georgien bis zu den Armeniern von Berg- Karabach in Aserbaidschan.

Einigermaßen stabil und ohne Blutvergießen haben bisher nur Litauen, Lettland und Estland ihre Unabhängigkeit erhalten – ohne daß jedoch bisher gesichert ist, wie gut ihnen diese auf längere Sicht bekommen wird. Nostalgieerscheinungen zur Rückkehr in ein „Großreich“ sind jedenfalls nicht nur von seiten der russischen Minderheit erkennbar.

Lösungen solcher sich anbahnender Konflikte hat niemand parat – weder die ehemalige Sowjetunion noch die EU. Nur mit immer neuen Versprechungen für die „regionale“ oder „ethnische Identität“ der Gebiete und Gruppen werden sich die vielen Pulverfässer jedenfalls auf Dauer nicht deckeln lassen. Werner Raith

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