piwik no script img

Gesellschaft ohne sozialen Puffer

Früher waren die BewohnerInnen Südkoreas entweder Ritter oder Bauern, heute sind sie reich oder arm. Doch die offizielle Gefühlslage des kleinen Landes der Superlative heißt: nationale Eintracht  ■ Aus Seoul Georg Blume

Nicht nur in Europa dreht sich die Welt ums Leder. Auch in Südkorea wird in diesen Tagen Fußball ganz großgeschrieben: „Korea, gemeinsamer Austräger der Fußballweltmeisterschaft im Jahr 2002“, verkündet die Werbung des Hyundai-Konzerns seit Anfang Juni in den meisten Tageszeitungen Südkoreas. Hyundai ist der größte Konzern in einem kleinen Land der Superlative. Südkorea, das ist – mit einer Bevölkerung von 44,5 Millionen – nach Japan der zweitgrößte Auto- und Computerchiphersteller Asiens und demnächst die siebtgrößte Industrienation vor Italien im Kreis der G 7 – wenn bis zur Jahrtausendwende alles so läuft, wie die Regierung sagt.

„Die Glorie der Nation haben wir in völliger Eintracht erreicht.“ Der Hyundai-Slogan zum Gewinn der Austragungsrechte der Fußballweltmeisterschaft bringt die offizielle Gefühlslage der jungen südkoreanischen Demokratie auf den Punkt: Wir sind wieder wer, und wir können uns der Welt zeigen. Einem westlichen Besucher erklären KoreanerInnen ihr Nationalgefühl mit drei Wörtern: „Korea number one.“ Ob in der Tofu- Bar oder am Pissoir, auf dem Gemüsemarkt oder in der Diskothek: immer wieder wird dem ausländischen Gast die simple Siegesformel nachgerufen.

Die Erfahrung erinnert an ein Bild aus der Zeit des Kampfes gegen die Diktatur: 1986 malte der Untergrundkünstler Park Hong Sun die Szene eines Boxkampfes. Im Ring kniet ein koreanischer Boxer in gedemütigter Haltung, doch das Publikum feiert euphorisch den Sieg und schwenkt die koreanische Fahne. Funktionieren die gleichen Mechanismen des Selbstbetruges auch heute noch?

„Die große Illusion der meisten Koreaner liegt in dem Glauben, daß sie alle einer fiktiven Mittelklasse angehören“, sagt Pastor Oh Yong-Sik, 42. Für den Geistlichen aus Seoul haben die schnellen wirtschaftlichen Erfolge viele KoreanerInnen für die Schattenseiten ihres Landes blind gemacht.

Dabei fällt es in Seoul gar nicht schwer, das andere Ende des Erfolges zu besichtigen. Im Stadtteil Nowon-gu, wo Oh seit neun Jahren eine Gemeinde betreut, herrschen Verhältnisse wie in Kalkutta. Zwischen einer Zementsteinfabrik und einem Altpapierlager ergießt sich ein Meer kleiner Hütten, von denen jede eine ganze Familie beherbergt. Die Behausungen sind mit lockeren Steinen, Wellblech und Plastikplanen notdürftig hergerichtet. Im Hüttendorf fehlt jegliche Kanalisation. Als Aborte dienen ein paar heruntergekommene Bautoiletten. Das Wasser steht in einigen Hütten bis an die Türschwelle, obgleich die Regenzeit noch bevorsteht. An den Reichtum von Seoul erinnern nur die an Bambusstöcken befestigten Stromleitungen, die die Stadt ihren Armen kostenlos zur Verfügung stellt.

Auffallend adrett und sauber sind die vielen Kinder des Hüttendorfs gekleidet. Vor kaum einer Hütte fehlt der Vorgarten, auch wenn er nur aus einem lächerlichen Blumentopf besteht. Was immer sich unter den widrigen Lebensbedingungen tun läßt, ist längst getan. Ein nicht geringer Teil der Hütten wird als Werkstatt benutzt: Hier arbeiten ein paar Frauen und Männer bei der Herstellung von rosa Kindersandalen, dort schleifen einige Handwerker eifrig an Türgriffen und Fensterrahmen.

Die Lebensgeschichten der Bewohner von Nowon-gu ähneln sich. Die meisten Familien fanden auf dem Land keine Beschäftigung mehr und zogen mittellos in die Stadt, wo es zwar hin und wieder Arbeit, aber keine feste Anstellung gab. Noch immer lebt das koreanische Wirtschaftsmodell von der Zuarbeit solcher Tagelöhner: Drei Millionen Menschen suchen nach Angaben des unabhängigen Gewerkschaftsverbands KCTU täglich eine neue Beschäftigung. Bei den vier weltweit bekannten Großkonzernen des Landes (Hyundai, Samsung, Daewoo und Lucky Goldstar), die sagenhafte 57 Prozent der Exporte und 32 Prozent der Umsätze von allen koreanischen Unternehmen abwickeln, arbeiten dagegen nur 3 Prozent der Beschäftigten.

In Nowon-gu zwingt vor allem das Wohnungsproblem viele Tagelöhner, in Armut zu verharren: „Niemand hungert mehr, und auch Kleidung ist kein Problem“, sagt Pastor Oh. „Was den Leuten fehlt, ist das feste Dach über dem Kopf.“ Selbst für kleine Wohnungen mit 50 Quadratmetern sind in Seoul Mietkautionen von umgerechnet 50.000 Mark üblich. Auch wenn Tagelöhner heute bis zu 200 Mark an einem Tag verdienen können, reichen ihre Rücklagen für das Anmieten einer Wohnung nicht aus. Zwar hat die Regierung das Problem seit langem erkannt und an vielen Orten Sozialwohnungen errichten lassen. Doch das Angebot steht in keinem Verhältnis zur Nachfrage. So bleibt Seoul auf den ersten Blick eine Zweiklassenstadt: Nicht weit von dem Hüttendorf in Nowon-gu türmen sich neue Mietskasernen, ausgestattet mit Wasser, Strom und Fußbodenheizung. Der gleiche Kontrast prägt die Innenstadt von Seoul: Zwischen Kaufhäusern und Luxushotels finden sich immer wieder ärmliche Handwerkerviertel, in denen in winzigen Werkstätten bis tief in die Nacht gearbeitet wird.

Das neureiche Südkorea aber hat gelernt, über die Not im Land hinwegzusehen: Armut, menschenunwürdige Behausungen und fehlende Kanalisation – für die tonangebende Mehrheit der Hyundai-Nation sind das die Übel der Vergangenheit.

Nirgendwo wird die Macht des Geldes greller und schonungsloser ausgestellt als in den großen Luxushotels von Seoul. Hochmotorisiert und juwelenbeladen geben sich wohlgestellte Familien der Managerklasse ihr Stelldichein bei Törtchen und Cognac. Abends folgen ihnen die erwachsenen Kinder in teure Diskotheken, deren diskrete Illuminierung die primitive sexistische Dekoration nicht verbergen kann. Es gibt in diesem Seoul weder Moden noch Musikausrichtungen, sondern nur die Extravaganz des demonstrierten Reichtums.

Kritik aus dem Ausland wird von Beamten in aller Regel barsch zurückgewiesen: Berichte von amnesty international, nach denen Südkorea nach wie vor eine bedeutende Zahl politischer Gefangener hinter Gittern verschließe, orientierten sich nicht an den Gesetzen des Landes. Wirtschaftliche Bedenken, denen zufolge Korea vom Export weniger Produkte wie Autos und Chips abhänge, seien unbegründet. Schließlich verfüge man heute über die unbegrenzten Absatzmöglichkeiten des riesigen chinesischen Marktes.

Der koreanischen Unbekümmertheit hat der Westen bis heute nichts entgegenzusetzen: Trotz Warnungen zahlreicher Experten, die auf die koreanische Importabhängigkeit von Hochtechnologieprodukten und den Einbruch der koreanischen Handelsbilanz hinweisen, malt der jüngste OECD- Bericht über Südkorea ein rosiges Bild der Lage. So dürfte das Land noch in diesem Jahr in die Organisation der Industriestaaten aufgenommen werden.

Besteht die koreanische Nation also gar aus lauter Supermännern, denen das Nationalgericht Kimchi (fermentierter, in scharfe Paprika eingelegter Kohl) übermenschliche Kräfte verleiht? Nur wenige vermögen Erfolge und Mißerfolge Südkoreas in ein auch für Außenstehende verständliches Licht zu rücken. Zu ihnen zählt Lee Youn- Taek, der bekannteste Dramatiker und Theaterregisseur des Landes.

Lee, Anfang Vierzig, ist ein weitgereister Intellektueller, bleibt aber den kulturellen Traditionen seines Landes verbunden. Im von ihm geleiteten Bukchon-Changwoo-Theater in Seoul hat er gerade einen koreanischen Hamlet inszeniert, dessen unverkrampfter Umgang mit dem Zwiespalt des Lebens etwas von der asiatischen Souveränität bei der Verinnerlichung mehrerer Weltanschauungen verraten soll. „Im Bewußtsein Asiens liegen postmoderne Elemente“, behauptet Lee. „Leben und Tod, äußere Maske und innere Gefühle, Realität und Gegenrealität – darin stecken für uns jeweils zwei Weltanschauungen. Das erleichtert uns den Zugang zu anderen Ausdrucksformen in virtueller Realität, Cyberspace, und schafft neue Theaterformen – Dinge, die europäische Rationalisten nicht akzeptieren.“

Die avantgardistische Interpretation koreanischer Irrationalitäten ist freilich auch für Lee nur die eine Seite der Medaille. Während der Regiestar in einem kleinen Theatercafé vor dem Poster eines alten Kurosawa-Films hockt und genüßlich an seiner japanischen Zigarette zieht, weiß er auch von eigenen Defiziten zu berichten: „Unsere Orientierungslosigkeit liegt darin begründet, daß es bei uns im Gegensatz zu Europa keine soziale Basis für die Kultur von Vernunft und Kompromiß gibt“, glaubt Lee. „Koreaner waren in der Vergangenheit entweder Ritter oder Bauern und die Intellektuellen entweder feige oder ohnmächtig.“

Lees Analyse beruht auf einem historischen Tatbestand, den auch der OECD-Bericht erwähnt: Kaum eine andere Nation hat je innerhalb einer einzigen Generation den Weg von einem unterentwickelten Agrarstaat zu einem modernen Wirtschaftsland zurückgelegt. Was freilich die OECD in hohen Tönen preist, sorgt beim Theatermann für Betrübnis: „Wir verfügen über kein reifes Bürgertum und damit über keinen Puffer zwischen Eliten- und Massenegoismus.“

Zurück zum Fußball, einem Spiel, das in Korea noch unter der Diktatur in den 80er Jahren Popularität gewann. Über Fußball reden jetzt alle KoreanerInnen: die armen Jungen und Mädchen in der Nachhilfeschule von Pastor Oh ebenso wie die Beamten und der Theaterregisseur. „Wir wünschen uns die Weltmeisterschaft, damit unser Land gewinnt“, krähen die Kinder im Hüttendorf, während die Beamten auf neue Milliardeninvestitionen in die Infrastruktur des Landes verweisen. Sogar der Dramatiker Lee hat die Weltmeisterschaft in einer Zeitungskolumne erwähnt: „Warum interessieren sich die Koreaner für Fußball im Jahr 2002 und nicht für das internationale Theaterfestival im nächsten Jahr?“ fragt der enttäuschte Intellektuelle.

Was keiner von ihnen bemerkt: Die Fußballbegeisterung ist in Südkorea eine Erfindung der Regierungs- und Konzernpropaganda. Kaum ein Kind kickt selbst mit dem runden Leder. Entsprechend ideenlos verläuft gewöhnlicherweise das Spiel der südkoreanischen Profis: „Die Spieler sind schnell und wendig, rennen aber alle nur konzeptlos auf das Tor zu“, beobachtet der belgische Libero der Samsung-Mannschaft „Blue Wings“, Adi Ocelli. Ocelli liefert damit ein Gleichnis für die koreanischen Zustände. „Korea number one“ wird es so weder im Fußball noch auf anderen Gebieten geben. Doch die Gefahr, daß viele KoreanerInnen daran glauben, ist groß. „Nach den Olympischen Spielen in Seoul 1988“, frohlockt die Hyundai-Werbung, „haben wir jetzt eine erneute Chance, Korea in der Welt erstrahlen zu lassen.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen