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Arrigo erntet die Früchte

Nach dem verderblichen 0:0 gegen Deutschland muß Italiens Trainer Sacchi sein Konzept überdenken – oder Italien das mit Sacchi  ■ Aus Manchester Peter Unfried

Es gibt Menschen, die säen nicht, die ernten nicht – und ihr himmlischer Vater ernährt sie doch. Das war am Anfang auch beim Fußball so. Es handelt sich hier bekanntlich um einen metaphysischen Bereich, aus dem wir Wichte oft ausgeschlossen bleiben; fassungslos, unfähig, ein Geschehnis nur annähernd zu begreifen.

So muß es also auch Menschen geben, die säen – und ernten nicht. Klingt gut? Hat auch Arrigo Sacchi gesagt, der vermutlich berühmteste Nationaltrainer der Welt. Noch mal: „Es gibt Momente im Leben, da kannst du nicht ernten, was du gesät hast.“ Als der Italiener Mittwoch nacht Old Trafford verließ, hielt er ein 0:0 gegen die Deutschen in Händen. Und also nichts, da die Tschechen in Liverpool in vorletzter Minute noch ein 3:3 geschafft hatten. Die dürfen jetzt im Viertelfinale am Samstag gegen Portugal spielen, Deutschland als Gruppensieger am Sonntag in Manchester gegen Kroatien.

Es waren dies Minuten einer ganz ungewöhnlichen Spannung – doch jene kam aus zweiter Hand, wurde von Liverpool herübergeweht. Und das ist auch schon das Bezeichnende, was man über das Spiel sagen kann. Sacchis Italien blieb immer Sacchis Italien. Ein stürmischer Beginn hatte emotionalen Fußball nur angetäuscht.

Nun ist gegen Rationalität nichts zu sagen. Es muß nur noch etwas dazukommen. Dieses Etwas kann Djorkaeff heißen oder Gascoigne. Es muß in der Lage sein, innerhalb des einstudierten Systems das Überraschende zu tun. Das muß im Mittelfeld passieren, und das war Italiens Problem. Fuser, Di Matteo, Albertini und auch Donadoni arbeiteten hart und spielten sich die Bälle in einer Geschwindigkeit zu, die den Deutschen den Atem nahm. „Wir haben hier gesehen, wie man Pressing spielen kann“, sagte Jürgen Klinsmann, und das war ein Kompliment an Sacchi. Die Italiener rannten und preßten ihre Gegner an die Wand – doch ohne dabei regelmäßig Chancen zu erspielen. Vor der Pause kamen Fuser (rechts) und Donadoni (links) drei-, viermal zum Schuß. „In der zweiten Halbzeit hatten sie keine Torchance mehr“, sagte Klinsmann – und hat recht.

Vogts hatte die übliche Herangehensweise geändert und Italien das Mittelfeld überlassen. Das führte zu einem unkontrolliert reagierenden, kreativfreien deutschen Spiel. Doch die Italiener vermochten den Raum nicht mit Ideen zu füllen. Roberto Donadoni hat nach dem 0:0 als einziger darauf hingewiesen, daß „etwas gefehlt habe“. Kapitän Maldini glaubt, es seien „20 Minuten“ gewesen, gegen die Tschechen, „in denen wir die Qualifikation verspielt haben“. Da machte man Fehler. Das Problem war, daß man danach nicht die Mittel hatte, sie auszubügeln.

Auf einem Flecken Europa, der Fußball tatsächlich ißt und trinkt, wird Sacchi nun Hohn und Spott und Wut ernten. Man wird ihm Rechnungen aufmachen, und darauf wird der Name Roberto Baggio stehen. Der hatte freilich eine durchwachsene Saison gespielt, Sacchi auf Alessandro del Piero (21) vertraut, dessen Nachfolger als Juventus-Genie. Doch in den Wochen von Alsager hatte er sehen müssen, daß der erledigt war – und sich auch nicht mehr regenerierte.

Arrigo Sacchi (50) war nie ein großer Fußballer. Er glaube dafür, sagen seine Kritiker, den Fußball neu erfunden zu haben. Die komplexen taktischen Zwänge, die er den Spielern in unzähligen Übungen einhämmere, erstickten alle Kreativität. Sacchi übersehe, daß es nicht sein System, sondern auch Gullit und van Basten waren, die Milan groß machten, und der Individualismus Roberto Baggios, der in den USA die Vizeweltmeisterschaft brachte. Tatsächlich hat der Mißerfolg Sacchis Idee, gegen die Tschechen das siegreiche Team aus verschiedenen Gründen komplett umzustellen, im nachhinein als den Gipfel menschlicher Vanitas erscheinen lassen.

Einmal, heißt es, soll er gesagt haben, wenn er, Sacchi, nicht Trainer wäre, wäre von seinem Team nur Maldini in England. 84 Spieler hat er in seinen viereinhalb Jahren ausprobiert, darunter 52 Neulinge. Das System ist der Star, hieß das. Und letztlich: Das System bin ich, Sacchi. „Wir haben gut gespielt und hätten heute gewinnen müssen“, sagte er in Old Trafford. Sacchi hat recht: Als Sammer Casiraghi den Ball übergab, und Köpke ihn von den Beinen holte, war alles wie in den USA: Nur daß diesmal Baggio nicht verwandelte, sondern Zola den Elfmeter in die Ecke schoß, wo Köpke schon lag.

Seit 1991 hat Sacchis Italien von 50 Spielen 32 gewonnen, nur sieben verloren. Diese Bilanz ist nun obsolet. Antonio Matarrese ist der meistgefragte Mann in diesen Tagen. Der Präsident des Fußballverbandes FIGC hatte die Hände in den Hosentaschen und ein klitzekleines Lächeln im Gesicht, als er sprach: „Solange ich Präsident bin, wird Sacchi Trainer bleiben.“ Das muß aber nicht das letzte Wort sein: Im September muß sich Matarrese selbst zur Wahl stellen. Ohne ihn wird auch Arrigo Sacchi (trotz seines Vertrags bis 1998) nicht bleiben. Die Frage wird aber auch sein: Wird Matarrese auf Sacchi beharren, wenn er sieht, daß er damit nicht mehrheitsfähig ist?

Gestern hat das italienische Team Sandbach in Richtung Rom verlassen. Ohne, wie Sacchi es formuliert, „die Ernte eingeholt zu haben, die die Spieler verdient hätten“. Aber da ist auch noch der himmlische Vater in seiner Güte. Es ist möglich, daß man Arrigo Sacchi bei der Heimkehr mit der Erde Früchte aushilft. Die werden dann andere gesät und geerntet haben. Und allerdings auch geworfen.

Deutschland: Köpke - Sammer - Helmer - Strunz, Eilts, Freund, Ziege - Häßler, Möller - Klinsmann, Bobic

Zuschauer: 53.740; gelb-rote Karte: Strunz (60.) wegen wiederholten Foulspiels

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