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„Ich bin ein einfacher buddhistischer Mönch“

Seinem Lächeln entgeht niemand: Wo der Dalai Lama auftaucht, versprüht er Wolken von Harmonie und Friedfertigkeit. Doch verbirgt sich hinter dieser Fassade ein theokratischer Alleinherrscher?  ■ Von Klemens Ludwig

Wer mit europäischen Konzepten fremde Kulturen bewertet, läuft leicht Gefahr, ihnen nicht gerecht zu werden. Dabei ist Tibet keine Ausnahme, denn es ruft häufig nur Schwärmerei oder Verteufelung hervor. Besonders schwer macht es der Dalai Lama, dessen Ernennung sich unserer Rationalität entzieht. Doch ein Blick in die jüngere Geschichte Tibets zeigt die Rolle des Dalai Lama in einem differenzierten Licht. Während der Unabhängigkeit war der 13. Dalai Lama die große Hoffnung der sozialreformerischen Kräfte im Land. Seit der chinesischen Invasion ist der 14. Dalai Lama der Garant für die Demokratisierung der tibetischen Gesellschaft. Unter den Tibetern bestreitet heute kaum mehr jemand, daß die gesellschaftlichen Strukturen zu Beginn dieses Jahrhunderts – wie in anderen Teilen Asiens – durchaus reformbedürftig waren. Die Macht der Klöster umfaßte nicht nur den geistlichen, sondern auch den weltlichen Bereich, und die Äbte dachten nicht daran, ihre Privilegien in Frage zu stellen. Alle Regierungsämter waren mit einem Adligen und einem Mönch besetzt. Viele abhängige Bauernfamilien litten unter der Willkür. Wenig bekannt ist, daß es Ansätze für Reformen gab, die mit der chinesischen Invasion jäh unterbrochen wurden.

Unmittelbar nach der Vertreibung der letzten chinesischen Soldaten im Jahr 1912 iniitierte der damals 36jährige dreizehnte Dalai Lama ein umfangreiches Reformprogramm. Dazu zählten Modernisierungsmaßnahmen wie ein Post- und Telegrafensystem und eine Währungsreform ebenso wie die Beschneidung der Macht der Mönche. Ihre Positionen in der Verwaltung übertrug er zum Teil Zivilisten, die im Ausland Erfahrung mit moderner Administration gesammelt hatten. 1922 öffnete in Gyantse eine Schule nach westlichem Muster die Tore. Damit war das Bildungsmonopol der Klöster gebrochen, jedoch nicht deren Macht: nach vier Jahren gelang es ihnen, die Schule zu schließen.

Zudem hatte der dreizehnte Dalai Lama immer ein offenes Ohr für die Bauern, die von den Klöstern ausgebeutet wurden. Bisweilen bestellte er die von den Bauern angeklagten Mönche zum Strafrapport in seinen Palast – für geistliche Würdenträger eine unglaubliche Demütigung. Der Dalai Lama gehörte nie einer feudalen Dynastie an, und er wird ebensowenig wie etwa der Papst, im fortgeschrittenen Alter von der Spitze der Hierarchie gewählt, sondern im Kindesalter von Geistlichen nach buddhistischem Glauben als Wiedergeburt seines Vorgängers ausfindig gemacht. Nur zwei der bislang vierzehn Dalai Lamas entstammen adligen Familien; alle anderen kamen aus einfachen Verhältnissen fern der Hauptstadt Lhasa.

Der Tod des 13. Dalai Lama im Dezember 1933 gab den Vertretern der alten Ordnung vorübergehend neuen Auftrieb. Die Köpfe der Reformbewegung mußten ins Ausland fliehen, um der Verfolgung zu entgehen. Die Epoche der Restauration dauerte nicht lange. Am 6. Juli 1935 wurde die 14. Inkarnation des Dalai Lama geboren und drei Jahre später als solche erkannt. Aufgrund der unverblümten Invasionsdrohungen Chinas wurde er bereits am 17. November 1950 im Alter von fünfzehn Jahren in sein Amt eingeführt. Mit großem Elan nahm er die Reformbemühungen seines Vorgängers wieder auf. Als eine seiner ersten Amtshandlungen befreite er viele Bauern aus der Schuldknechtschaft, indem er alle Schulden, die älter als acht Jahre waren, aufhob und bei jüngeren die Zinszahlungen tilgte.

Doch nicht die Adels- und Mönchselite setzte der Erneuerung ein Ende, sondern die chinesische Volksbefreiungsarmee, die am 9. September 1951 Lhasa erreichte, um sie vom „Imperialismus“ zu befreien. Ganze fünf „ausländische Imperialisten“ befanden sich damals in Tibet. Vier konnten rechtzeitig fliehen, ein englischer Techniker im Dienst der tibetischen Regierung, Robert Ford, geriet für mehrere Jahre in chinesische Gefangenschaft. Statt auf die einheimischen Initiativen zur Reformierung Tibets aufzubauen, schränkten die Chinesen die Befugnisse des Dalai Lama immer mehr ein. Offenbar paßten derartige Ansätze nicht in das Bild eines hoffnungslos verkrusteten Landes, das die Chinesen und ihre politischen Freunde bis heute zeichnen, um das skrupellose Vorgehen der Besatzungsmacht zu rechtfertigen.

Die Flucht des Dalai Lama ins indische Exil bremste seinen Reformwillen nicht. Die Davongekommenen fühlten sich gegenüber den Zurückgebliebenen verpflichtet, die politische und soziale Erneuerung fortzusetzen. Wenn heute über Veränderungen in der tibetischen Gesellschaft spekuliert wird, müssen die Exilgemeinden herangezogen werden, denn nur dort ist eine eigenständige Entwicklung möglich.

Im März 1963 veröffentichte der Dalai Lama eine vorläufige Verfassung als Meilenstein auf dem Weg in eine demokratische Gesellschaft. In dem Vorwort dazu heißt es: „Dieser Verfassungsentwurf soll dem tibetischen Volk ein demokratisches System sichern, das sich auf Gleichheit und Gerechtigkeit stützt und den kulturellen, religiösen und wirtschaftlichen Fortschritt sicherstellt.“

Die Verfassung ermöglicht es der von den Exiltibetern gewählten Nationalversammlung, den Dalai Lama als politisches Oberhaupt abzuwählen. In den vergangenen Jahren wurden die Befugnisse dieses Exilparlaments weiter gestärkt. So wird die Exilregierung nicht länger vom Dalai Lama ernannt, sondern von der Nationalversammlung gewählt.

Der vierzehnte Dalai Lama betont immer wieder, daß er in einem neuen Tibet keinerlei politische Ambitionen habe. „Ich bin ein einfacher buddhistischer Mönch“ lautet sein Selbstverständnis. Nur läßt ihm die politische Lage des tibetischen Volkes keinen Raum für ein einfaches Mönchsleben. Die Umstände haben ihn zum Diplomaten gemacht. Er weiß, was eine charismatische Persönlichkeit für den Freiheitskampf eines Volkes bedeutet.

Neben der persönlichen Überzeugungskraft hat ihm die Verleihung des Friedensnobelpreises 1989 weltweite Popularität gebracht. Sie stellt ihn in eine Reihe mit Personen wie Nelson Mandela oder Jassir Arafat. Zuvor war der Dalai Lama von internationalen Politikern gemieden worden wie ein Aussätziger. Erst 1989 empfing ihn als erstes Staatsoberhaupt der tschechische Präsident Václav Havel – ebenfalls ein ehemaliger „Aussätziger“ der Weltpolitik. Inzwischen befinden sich diejenigen in der Minderheit, die es, wie Bundeskanzler Helmut Kohl und Bundespräsident Roman Herzog, noch nicht gewagt haben, ihn zu empfangen.

Um die Regierung der Volksrepublik zu Konzessionen zu bewegen, geht der Dalai Lama sehr weit und provoziert damit offenen Widerspruch zu jungen Tibetern. In zahlreichen Erklärungen hat er den Anspruch auf Eigenstaatlichkeit aufgegeben, wenn sich Peking dadurch auf Verhandlungen einlasse. Diese Haltung, bekannt als „mittlerer Weg“, wird vom Tibetischen Jugendkongreß kritisiert. Die Tibeter hätten ein Recht auf Verhandlungen ohne Vorleistungen.

Mehr noch als diese Frage könnte die Frage der Gewaltfreiheit zu einem Riß in der tibetischen Gesellschaft führen. Der Dalai Lama hat mehrfach deutlich gemacht, daß er niemals gewaltsame Methoden befürworten werde. Diese Ansicht wird nicht von allen Tibetern geteilt. In den Exilgemeinden wird inzwischen über Möglichkeiten des gewaltsamen Kampfes diskutiert, und in Lhasa sind in den vergangenen Monaten mehrfach Sprengsätze vor chinesischen Einrichtungen oder den Häusern tibetischer Kollaborateure explodiert. Ob sie tatsächlich von Tibetern gelegt wurden, ist unklar. Solche Aktionen passen durchaus in das Kalkül der chinesischen Besatzer, weil sie den Dalai Lama diskreditieren und Tibet zum „Terrorismusproblem“ machen, ähnlich der Kurdenfrage in der Türkei.

Dennoch ist unbestritten, daß der Ruf nach Gewalt in den Exilgemeinden allmählich lauter wird. Die ihn anstimmen, nehmen den Dalai Lama auf eine Art beim Wort. Sie beschränken das spirituelle Oberhaupt der Tibeter auf seine unbestrittene religiöse Rolle und gehen politisch eigene Wege.

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