Zwischen den Rillen: Gib dem Techno Zucker
■ Für Rave extrem uncool: Nicolette singt „No Government“
Da ist gedacht worden. Plötzlich sehen die Jungle- und Drum&Bass-Plattencover nicht mehr nach Pappkarton und Fotoshop aus, sondern geschmackvoll wie von Layout-Profis typografiert. In den Clubs neigt der entsprechende Soundclash allmählich zum Kulturprogramm, wo Grooves nach ihrem abstrakten Gehalt – die Welt als Wille und Breakbeat – ausdiskutiert werden. Tanzen allein genügt nicht, und alles erinnert sehr an die Zeit, als Talking Heads sich von Robert Rauschenberg gesamtkunstwerklerisch die LP „Speaking in Tongues“ als Auflagenobjekt gestalten ließen, und dann war New Wave auch schon bald vorbei.
Auf dem neon-pop-art-artig schillernden Cover von Nicolette steht wenigstens der hübsche Satz „Let no one live rentfree in your head“; und die dazugehörigen Stücke heißen „No Government“, „Don't be afraid“ oder „Where have all the flowers gone“, frei nach Joan Baez (oder vielleicht doch mehr Marlene Dietrich?) interpretiert. Für Rave extrem uncoole Themen.
Mit zarten Blockschriftbuchstaben werden später Eltern, Geschwister, Massive Attack und der Frieden gegrüßt, von einem „süßen kleinen Herzen, das vor Liebe platzen möchte“. Gib dem Techno Zucker: Was immer die nigerianische Sängerin auf ihr zweites Album gepackt hat, ist dermaßen überkandidelt, freundlich und nett gemeint, daß am Ende des ausgelassenen Stimmen- und Beat-Gewirrs zu Recht eine Art Underground zum Kuscheln herauskommt.
Selbst die Stimme trägt ein Blümchenkleid. Wie bei „Now is Early“, das von den Ragga- Spezialisten Shut Up And Dance 1992 noch low-fi am Atari im Nordlondoner Suburb-Wohnzimmer produziert wurde, flattert Nicolette auch auf „Rentfree“ zwischen kaugummikauendem Girlie und „Billie Holiday on acid“ (NME) herum. Bald schmiegt sie sich bei Blues, Gospel und Jazz an, dann gurgelt sie trippig in den Tiefen des Dubs, lacht mitten in die Gesangslinie hinein oder kiekst einfach nur ein dutzendmal „what a beautiful day“, während im Hintergrund die Maschinen arbeiten. Eine Bohrung, ein Schlag und Jauchzen, Frohlocken – Industrial im menschlichen Gewand.
Dabei prallen die Sounds mitunter ziemlich dumpf aufs Gemüt. Stückweise darf man sich durch Sequenzer-Arrangements wühlen, die nur der Zufall programmiert haben kann. Dann wieder scheint der Rhythmus monoton über die Bässe zu schleifen.
Die Hälfte der Platte ist vom Hacker-Duo Plaid minimalistisch zugerichtet worden, ein wenig atonales Brummeln hier, ein bißchen Klirren dort, dazwischen stimmt Cage seine Klaviere. Für „Nervous“ und „Nightmare“ lieferte der Berliner Post-Teenage- Riot Alec Empire eine Grundatmosphäre aus Motorsäge und Jazzbesen, über die Nicolette merkwürdig ungerührt von den eigenen Maskeraden singt und ein gedehntes „pleasure attack“ hinhaucht, als wäre jede Liebe nur unter Schmerzen zu haben: S/M als eine Art Yin und Yang des Dancefloor.
Vielleicht sind Musik und Stimme aber auch gar nicht gemacht, um auf einer gemeinsamen Ebene zu funktionieren. Schließlich hat ja gerade Techno die Mille-Plateaux-Philosophie in Beats per Minute übersetzt. Je weniger sich die beschleunigten Teilchen aus dem Elektrobaukasten mit ihrem Gesang berühren, desto stärker nimmt man die Spannung zwischen Mensch und Maschine wahr. Sie atmet, es rauscht.
Zuletzt ist es die Unstetigkeit von Drum&Bass-Nummern wie 4 Heros „Song for Europe“, die zur Schräglage paßt, in der sich Nicolette zwischen Jungle, Hardcore, HipHop, Jazz bewegt. In jedem Lied scheint sie sich nur von Moment zu Moment den eigenen Raum abstecken zu wollen – ob als „black trash“-Alternative zu Juliette Lewis oder als „immaterial girl“ im Gegenentwurf zu Madonna. Der Rest passiert einfach so im Studio an den Geräten. Sie nennt es Pop. Harald Fricke
Nicolette: „Let no one live rentfree in your head“. (Polygram/ Motor).
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