Gruppenbilder mit dezenten Brüchen

Nach der Bochumer Uraufführung jetzt auch in Berlin: Martin Wuttke inszenierte Heiner Müllers „Germania 3. Gespenster am Toten Mann“ am BE – eine Arbeit ganz im strengen Stil des Hauses, aber auf ihre Art auch einleuchtend  ■ Von Petra Kohse

Ulbricht und Thälmann schlüpfen durch den Vorhang auf die Vorbühne. Sie sind barfuß unterm Anzug, tragen Gummischuhe, lächeln und schauen sich zufrieden um. Das dauert eine ganze Weile. Dann stellt Thälmann fest: „Das Mausoleum des deutschen Sozialismus. Hier liegt er begraben.“ Lacher im Berliner Ensemble, und man weiß auch gleich: Es wird reduziert sein, es wird ernst sein, aber nicht zu ernst.

Nachdem die Uraufführung im Mai in Bochum stattgefunden hatte (vgl. taz vom 28.5.), konnte Martin Wuttke an Heiner Müllers letztem Stück „Germania 3. Gespenster am Toten Mann“ ohne großen Erwartungsdruck arbeiten. Die erste Inszenierung des Schauspieler-Intendanten, zudem eine, die ihm sozusagen kraft seines Amtes mit auf den Weg gegeben wurde – man hoffte, daß es nicht allzu schlimm sein würde. Es war im ganzen erstaunlich gut.

In neun Szenen läßt Müller die Untoten der deutschen Geschichte Revue passieren. Zu den Nibelungen gesellt er Stalin und Hitler, zu Soldaten und SS-Witwen einen KZ-Häftling, zu drei Brecht-Witwen sowie Palitzsch und Wekwerth den Beelitzer Frauenmörder „Rosa Riese“. Das liest sich fast durchgehend donnernd, anklagend und hoffnungslos. Der Deutsche, das mordende und modernde Wesen, der Jasager und Duckmäuser, das Opfer der Geschichte, deren Täter er ist. Eine thesenhafte Szenenfolge, eher zwanghaft als zwangsläufig.

Nina Ritter hat Wuttke hierfür eine zweigeteilte Bühne entworfen: links weiß, rechts schwarz. Das ist schon alles. Ein ironischer Kommentar zum apodiktischen Text? Ein Hinweis darauf, daß es zur dunklen Seite der Geschichte auch eine unerwähnte helle gibt? Oder einfach der passend stilisierte Hintergrund für eine fast minimalistische Inszenierung?

Einige Einar-Schleef-Bilder kommen vorbei, aber weicher. Ein Frauenchor tritt auf, und wie in „Wessis in Weimar“ wird in den vorderen Logen gespielt. Wuttke rafft, komponiert die Texte deutscher und russischer Soldaten zusammen. Ekkehard Schall deklamiert den Stalin, er trägt eine viel zu große, helle Cocktailjacke. Hitler hingegen (Volker Spengler) hat sein Bärtchen an den Gehilfen abgegeben und fläzt sich selbst mit nacktem Oberkörper in einem Frack, auf seinem Zylinder brennt eine Kerze. Dezente Brüche.

Kurz vor der Premiere hat Wuttke noch einmal stark reduziert, viele Figuren, die das Programmheft nennt, treten gar nicht erst auf. Die Militärpatrouille etwa, die den Ex-Häftling abholt, weil er einen Russen getötet hat, der seine Frau vergewaltigte. Von der Verhaftung erzählt Hans-Peter Reinecke nur noch und steht dabei wie ein Zwischenakt-Witzereißer vor geschlossenem Vorhang. Immer wieder geht er ab und kommt erneut hervor, um lachend noch eine „Pointe“ dranzuhängen, etwa wie er im Lager von Workuta dann zusammengeschlagen wurde.

Wuttke bebildert die Szenen nicht. Keine Geschichten ziehen vorüber. Ihn drängt es im Gegensatz zur Abstraktion. Und eine Geste wie die der jungen SS-Witwe (Margarita Broich), die zu dem flüchtenden kroatischen SS-Mann sagt „Fassen Sie mich nicht an“ und ihm verlangend den Arm entgegenstreckt, ist schon das Äußerste an Psychologie – chiffrenhaft.

Manchmal vermißt man eine deutliche Haltung des Regisseurs zum Übervater Müller. Respektlosigkeit oder klare Affirmation. Aber das ist nicht die Idee dieser Arbeit. Wuttke zeigt den Text, augenblicksgefroren und immer wieder auch heiter gelassen. Was an dieser Zurückgenommenheit letztlich überzeugt, ist die Souveränität, mit der sich die Inszenierung weitgehend im Sinne der Müllerschen Ästhetik von Satzcorsagen und statuenhaften Bühnenarrangements ausgerichtet hat, aber in Details eben doch irritiert. Kein Weihespiel, sondern ein Angebot.

In der „Party“-Szene etwa sieht man sächsische Funktionsträger zum Gruppenbild arrangiert, kurz bevor die Nachricht von Chruschtschows Rede über Stalin kommt. Der Bürgermeister, der in seiner Amtsstube kein Stalin-Bild hat, ist darunter, der Architekt, bei dem es auf dem Klo hängt, ein Eiferer und Thomas Wendrich als Bürgermeistersohn und junger Intellektueller, der sich keine Illusionen über den Aufbau des Sozialismus macht: „Ohne Inferno kein Paradies. Kein Himmel ohne Hölle. Und der Kapitalismus ist das Fegefeuer, in dem das Geld gewaschen wird.“

Wendrich dominiert die Gesellschaft souverän. Er nimmt sich Zeit für seine Sätze, stellt sich breit grinsend mal hier, mal da in Positur. Minutenlang ist er der einzige, der sich bewegt, und man beginnt, ihn ganz genau zu betrachten. Warum grinst der so? Ist da wirklich kein Funken Unsicherheit? Was weiß der? Oder grinst er über sich selbst? Doch Wendrich verrät seine Figur in keinem Augenblick.

Zwei Stunden schon wären zu viel für solches Theater. Der Abend dauert aber nur eindreiviertel Stunden. Abweisend, aber nicht glatt, unbeweglich, aber nicht starr ist diese Inszenierung, die natürlich keine „eigene Handschrift“, aber intelligente Konsequenz erkennen läßt. Daß Müllers Text dadurch nicht überzeugender wird, kann man Wuttke nicht zum Vorwurf machen.

Nächste Vorstellungen am 29./30.6., 19.30 Uhr, Berliner Ensemble, Bertolt-Brecht-Platz