: Prävention statt Repression
Trotz höherer Jugend- und Kinderkriminalität sind ExpertInnen gegen härtere Strafen. Berliner Justiz- senatorin will Familien stärken: Sie sollen pro Kind eine Stimme bekommen ■ Aus Berlin Wolfgang Gast
Ob Richter, Staatsanwältin oder Kriminologe – die TeilnehmerInnen der internationalen Fachtagung „Kinder- und Jugendkriminalität“ waren sich einig wie selten: Eine Verschärfung des Jugendstrafrechts oder gar die Herabsetzung des Strafmündigkeitsalters werde nichts bringen, mit drastischer Repression werde man der gestiegenen Jugend- und Kinderkriminalität nicht beikommen können.
Auf der von der Friedrich- Ebert-Stiftung in Berlin durchgeführten zweitägigen Veranstaltung kritisierten die ExpertInnen weiter, daß die Furcht vor Jugendkriminalität „unglaublich übertrieben“ werde. Die Berliner Justizsenatorin Lore Maria Peschel-Gutzeit referierte zum Auftakt die jüngsten Zahlen aus der bundesweiten Kriminalitätsstatistik. Danach standen 1995 fast 186.000 von insgesamt 3,4 Millionen Jugendlichen im Verdacht, eine Straftat begangen zu haben. In den neuen Bundesländern habe dabei die Steigerungsrate mit 19,5 Prozent etwas höher gelegen als in den alten Ländern mit 15,7 Prozent. Besonderer Trend: Die Kriminalität unter Kindern ist schneller gewachsen als unter Jugendlichen. Besorgniserregend sei vor allem die Zunahme der Raubtaten bei Kindern und eine wachsende Rauschgiftkriminalität unter Jugendlichen.
Peschel-Gutzeit wollte härteren Strafen dennoch nicht das Wort reden. In ihren Augen bildet die „gesellschaftliche Benachteiligung von Familien, insbesondere Alleinerziehender den Humus, auf dem die Kinder- und Jugendkriminalität blüht“. Um diese Benachteiligung zu beseitigen, brachte die Senatorin den überraschenden Vorschlag ein, „daß jede Familie für jedes minderjährige Kind, das sie großzieht, eine zusätzliche Stimme erhalten muß“. Eine solche Änderung im Wahlrecht würde die „soziale Symmetrie, die verlorengegangen ist, wiederherstellen oder doch verbessern“.
Alle ReferentInnen gaben der Prävention den Vorrang vor der Strafverfolgung. Wilhelm Heitmeyer, Professor an der Universität in Bielefeld, forderte beispielsweise, die kulturellen Angebote für Jugendliche gerade in Zeiten der knappen öffentlichen Haushalte auszubauen. Da eine Integration der Jugendlichen über den Arbeitsmarkt wegen der strukturellen Arbeitslosigkeit zunehmend weniger gelinge, müsse „antizyklisch“ in den Kulturbereich investiert werden. Auch Heribert Ostendorf, Generalstaatsanwalt in Schleswig-Holstein fand: „Mehr Härte, wie sie uns vielfach abverlangt wird, bringt nach allen kriminologischen Erfahrungen nicht mehr Gewinn.“ Die Botschaft sollte in Bonn ankommen.
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