piwik no script img

Einzelkämpfer im Geschmacksdorf

■ Heinrich Stöters „High-Tech-Barock“ ist die Attraktion des 1. „Tages der Architektur“ in Hamburg

Keine architektonische Entwicklung hat es mit so vielen Ängsten und Verspottungen zu tun wie der sogenannte „Dekonstruktivismus“. Die durch neue Bautechniken möglich gewordene Zerpflückung der Grundrisse und Fassaden, die Sichtbarmachung von Strukturen und die explosive Regie einer Architektur, die der Gravitation die lange Nase zeigt, wird ebenso Opfer zeitgenössischer Theoriefeindlichkeit wie des konservativen Geschmacks der Geldgeber. Populistische Kritiker tun diese in sich sehr heterogene Richtung gerne als „modisch“ und „aufgeregt“ ab, und gewöhnliche Bürger halten Architekten wie Zaha Hadid, Daniel Libeskind oder Coop Himmelblau für Spinner und fragen sich lieber, ob es bei den gefalteten, gezackten und geschachtelten Bauten nicht reinregnet und wo man die Waschmaschine hinstellt.

Sicherlich sind an diesen Berührungsängsten die Architekten nicht ganz unschuldig, weil sie sich zu selbstverliebt und übertheoretisch geben und gewachsenen Bedürfnissen zu grob entgegentreten. Aber andererseits ist der Dekonstruktivismus in seiner spielerischen Umgangsweise mit gewohnten Formen eine Bereicherung für jede Stadt und die rigide Ausgrenzung derartiger Architekten durch Bauherren und -beamte sowie Kollegen ein Armutszeugnis. Wo Risikoangst und Unkreativität die Hacken zusammenschlagen, da enden solch zarte Pflänzchen schnell auf dem Komposthaufen der Geschichte.

Deswegen ist es umso erstaunlicher, daß ausgerechnet Hamburg, dieses wehrhafte Geschmacksdorf, in Kürze ein „dekonstruktivistisches“ Schmuckkästchen und dazu noch an seiner feinsten Adresse, der Elbchaussee, bekommt. Das von dem „architektonischen Einzelkämpfer“ (Selbstbezeichnung) Heinrich Stöter entworfene und selbst umgesetzte Wohn- und Geschäftshaus kann nun im Rahmen der Führungen zum „Tag der Architektur“ auch innen besichtigt werden.

Gerade die Umsetzung des Fassadenfreistils in bewohnbare Räume weckt ja immer wieder die Zweifler aus ihrem Gewohnheitsschlaf. Und beim Gang durch das Haus findet man dann natürlich auch keine gewohnten Zimmerkisten, entdeckt viele scheinbar „tote Ecken“ und benötigt einige Phantasie, um sich vorzustellen, daß man gerade mit dieser Situation höchst kreativ umgehen kann. Eine Reihenhaushälfte mit Ikea-Möbeln vollzustellen befriedigt eben nicht jeden.

Stöter selbst wird allen Interessierten die Enstehung des gleichzeitig nach ökologischen Gesichtspunkten entworfenen Hauses erläutern. Der Architekt und seine nicht minder für das Projekt engagierte Frau Marion kommen dabei mehr von der Praxis- und Spielerseite zum künstlerischen Hausbau. Sie interessiert nicht Derrida oder Leibniz' Falte als vielmehr die bewohnbare Skulptur, die sie täglich inspiriert und durch die unzähligen Perspektiv-, Material- und Farbwechsel immer aufs neue erfreut und herausfordert.

Dementsprechend vielfältig und verschlungen präsentiert sich der Bau. Die vielen ineinandergefügten Körper, die den Gesamtbau ergeben, sind alle verschieden gestaltet, ohne daß man sich dabei vorkommt wie im Bonbon-Laden: Rot-weiße Streifen – nicht von Daniel Buren abgeguckt, sondern vom Absperrungsplastik der Baustelle –, eine Wand aus Blattgold, eine aus „babypopoglattem“ Sichtbeton, orange Glaskacheln neben indigoblauem Rauhverputz, eine poppige Mediawand unter einer grünen Glaskanzel und eine Tür, in die später einmal ein chinesisches Automatenpärchen eingebaut wird, das sich vor den Vorbeigehenden freundlich verbeugt. Diese Wildheit setzt sich im Haus fort, wobei die außen sichtbaren Körper mitsamt Farben bis ins Innere hineingezogen werden.

Das labyrinthische „High-Tech-Barock“-Wunschschlößchen der Stöters soll nach ihrem Willen kein Einzelfall bleiben. Denn daß dieser Bau geringere Quadratmeterkosten als im Sozialbau hat, ermutigt sie, ihre Idee auch in diesen Sektor zu tragen. Der traurige Anblick von Hamburgs Peripherie schreit danach!

Stöters Pionierbau ist eines von sieben Einzelgebäuden, das während des ersten „Tages der Architektur“ am 29. Juni begangen werden kann. Dazu gehören auch das spannende im Freihafen gelegene Amt für Strom- und Hafenbau von Dinse/Feest/Zurl oder der elegante Umbau einer Fabrik an der Rentzelstraße durch Carsten Roth.

Die andere Hälfte des von der Hamburgischen Architektenkammer zusammengestellten Programms umfaßt thematische Touren: Die Fleetachse, die Elbuferbebauung, die City Süd sind ebenso Thema wie Fabrikumnutzungen und neue Wohn-, Schul- und Gewerbebauten. Till Briegleb

Anmeldung und das genaue Programm: Hamburgische Architektenkammer, Alsterkamp 41, 20149 Hamburg;

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen