: Evolution in Aktion Von Mathias Bröckers
Wenn der Begriff „Künstliches Leben“ fällt, liegt die Assoziation „Frankenstein“ nicht weit und verbreitet, vom Homunkulus bis zu den neuesten Horror-Genmutationen, nicht gerade Wohlgefallen. Seit es Computer gibt, müssen die künstlich Lebenden aber nicht unbedingt als Monster daherkommen – kleine Software-Kreaturen tun's auch.
Schon seit Mitte der achtziger Jahre bevölkern Biologen und Computerwissenschaftler ihre Festplatten mit programmierten „Lebewesen“, die sich vermehren, im Wettstreit um Ressourcen mutieren und so digital in Stunden oder Tagen nachvollziehen, wozu die Evolution Jahrmillionen brauchte. Die „Artificial-Life“- Forschung verspricht sich von diesen Simulationen Aufklärung über die nach wie vor ungeklärten Knackpunkte der Evolutionstheorie: Hat sich das Leben auf der Erde tatsächlich nur nach der Versuch-und-Irrtum-Methode entwickelt, indem aus einer Unzahl von Zufallsmutationen sich diejenigen durchsetzten, die am besten an ihre Umgebung angepaßt sind? Oder gibt es außer diesem Zufallsgenerator noch andere Steuerungsmechanismen? Ist vielleicht sogar der Mechanismus selbst der Veränderung unterworfen, evolvieren die Evolutionsgesetze, oder sind sie ewig gültig?
Trotz vieler aufregender Erkenntnisse haben die digitalen Versuchskaninchen diese Fragen bis heute nicht klären können. Was vor allem damit zu tun hat, daß auch die größten und schnellsten Computer nicht an die Komplexität und Vielfalt der natürlichen Umwelt herankommen. Deshalb entwickelten die Software-Kreaturen, die der Evolutionsbiologe Thomas Ray seit 1990 baut, zwar eine erstaunliche Artenvielfalt und sogar rudimentäre soziale Interaktionen, aber höheres Verhalten erreichten sie in der „stupiden“ Umwelt eines einzelnen Computers nicht. Seit Mitte Mai nun haben Ray und seine Kollegen der „Tierra Working Group“ ihre künstlichen Lebewesen in ein Universum von 100 Computern entlassen, die über das Internet verbunden sind. In jedem Rechner bildet das Tierra-Programm einen virtuellen Computer, der die Ursuppe von den restlichen Programmen fernhält, schafft kleine, sich selbst vermehrende Programme und führt sie in den nicht benutzten Arbeitsspeicher ein. Um den Kreaturen einen Umgebungswechsel zu erlauben, haben sie Zugang zum Internet: Sie können einen verbundenen Computer über seine Hard- und Softwareeigenschaften und die Größe seiner Tierra-Bevölkerung befragen und im Bedarfsfall migrieren: Viel freier Arbeitsspeicher und ein schneller Prozessor sind für sie wie das Land, in dem Milch und Honig fließen. Wie in der wirklichen Welt, so glauben die „Tierra“-Programmierer, werden sich die digitalen Wesen verschiedene Computerumgebungen als ökologische Nischen aussuchen. Und könnten so viele Fragen beantworten helfen: Warum sind schon winzige Veränderungen der Umgebung für die Entwicklung einer Spezies so entscheidend, welche Bedingungen führen zu einem Ausrottungswettbewerb unter verschiedenen Spezies, welche zu Kooperation und Ko-Evolution, wie reguliert sich das Verhältnis von Parasiten und Wirten? Noch wissen die Forscher nicht, wie die „Tierra“-Tierchen auf das Angebot zur Migration reagieren.
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