piwik no script img

Einsamer Tod vor einem Hauseingang

■ Der 35jährige obdachlose Stefan Söhnlein verschwand vor viereinhalb Wochen spurlos. Seine Kumpel vermißten ihn, aber keiner wußte etwas über seinen Verbleib. Die Vermißtenstelle verschaffte schließlich t

Er stand jeden Mittag neben dem Waschsalon an der Treppe des U-Bahnhofs Mehringdamm und schnorrte bei den vorbeihastenden Passanten ein paar Groschen. Wenn der magere Mann mit den dunklen Haaren und Bart gut aufgelegt war, hockte er sich auf die Stufen und legte für seine Kumpel die Tarotkarten. Auch bei den wöchentlichen Treffen in der Wärmestube der Heilig-Kreuz-Gemeinde fehlte er so gut wie nie. Sein bürgerlicher Name war Stefan Söhnlein, aber in der Obdachlosenszene hieß der 35jährige einfach „Ghandi“.

Vor viereinhalb Wochen verschwand Ghandi spurlos. Die 17jährige Punkerin Eileen, die manchmal mit ihm zusammen „Platte“ gemacht hatte, wartete wie jeden Tag auf ihn an der Treppe neben dem Waschsalon – vergebens. Als Ghandi selbst Donnerstags nicht mehr zum Rathaus Kreuzberg kam, um seine Sozialhilfe abzuholen, begannen in der Obdachlosenszene wüste Gerüchte zu kursieren. Die einen erzählten, zwei Angestellte der Berliner Wache hätten Ghandi aus dem Waschsalon geschleift und die Treppe zum U-Bahnhof hinabgeworfen. Unter seinem Kopf habe sich eine große Blutlache gebildet und er sei wenig später im Urban- Krankenhaus gestorben. Andere wollten beobachtet haben, daß Ghandi, der sonst nur Alkohol trank, eine halbe Flasche Methadon geschluckt habe und dann im U-Bahnhof bewußtlos umgefallen sei. Im Urban-Krankenhaus sei er mit Elektroschocks wiederbelebt worden und danach spurlos verschwunden.

Ein Flugblatt, das im Bereich Mehringdamm verteilte wurde, heizte die Gerüchteküche noch mehr an. „Vorsicht Obdachlose! In Kreuzberg gibt es gefährliche Orte für Obdachlose. Anfang Juni im Waschsalon starb Ghandi unter bisher ungeklärten Umständen an einem Schädelbruch“, heißt es. „Seid vorsichtig und meldet Angriffe auf euch in Wärmestuben oder Kirchengemeinden.“ Wer das Flugblatt verfaßt hat, ist nicht bekannt. Auf Nachfrage erklärte die Polizeipressestelle, von dem beschriebenen Vorfall im Waschsalon sei nichts bekannt.

Der in der Obdachlosenarbeit engagierte Pfarrer der Heilig-Kreuz-Gemeinde, Joachim Ritzkowsky, bemühte sich lange Zeit vergebens, Ghandi ausfindig zu machen. „Innerlich fühlt man, das er nicht mehr lebt, aber man klammert sich an jeden Hoffnungsschimmer“, beschrieb Ritzkowsky sein Gefühl und das von Ghandis Freunden. „Er muß tot sein, sonst wäre er längst wiedergekommen“, sagte Eileen traurig. „Die irre Oma Diepgen, die immer karierte Klamotten anhat, will ihn im Wedding gesehen haben. Aber das glaube ich nicht.“

Eine Anfrage bei der Vermißtenstelle der Kripo brachte schließlich Gewißheit. Ghandi starb bereits am Pfingstsonntag, den 25. Mai, um 8.30 Uhr in der Körtestraße in Kreuzberg vor einem Hauseingang „auf öffentlichem Straßenland“ – fernab vom Waschsalon am Mehringdamm. Als Todesursache wird eine Vergiftung durch Alkohol angenommen, das endgültige Obduktionsergebnis liegt noch nicht vor. Eine Stich- oder Stoßverletzung am Kopf als Todesgrund „ist aber ausgeschlossen“, erklärte ein Kripobeamter. Die Leiche konnte nur deshalb als Stefan Söhnlein identifiziert werden, weil seine Fingerabdrücke nach einer Straftat im Computer des Bundeskriminalamtes registriert worden waren. „Das Erscheinungsbild des Toten ließ vermuten, daß er obdachlos war und deshalb von niemanden vermißt wird“, sagte der Leiter der Vermißtenstelle Dieter Lurch.

Ghandis Asche wird am 23. August auf einem Friedhof in Tegel beigesetzt. Die Kosten trägt das Sozialamt, eine Urnenfeier wird es nicht geben. Als er die Todesnachricht bekam, war für Pfarrer Ritzkowsky klar, daß er für Ghandi am offenen Grab eine Andacht halten wird. Er ist sehr froh darum. „Es kam schon vor, daß wir erst ein halbes Jahr später von einem Tod und der Beerdigung erfahren haben. Es ist fürchterlich, wenn ein Mensch einfach weg ist, und man nicht von ihm Abschied nehmen konnte.“ Plutonia Plarre

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen