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Jidl mitn Fidl

■ Joseph Green, der große Regisseur des jiddischen Films, starb am letzten Donnerstag 96jährig in New York. Im Gespräch erzählte er Jan Linders sein Leben

Ich wurde am 16. April 1900 in Lódź geboren. Am gleichen Tag wie Shakespeare. Und soll ich Ihnen noch etwas verraten? Es war auch Shakespeares Todestag. Mein richtiger Name ist Joseph Grünberg. Mein Vater war Makler und Textilunternehmer, meine Mutter Hausfrau. Meine beiden Brüder sind gestorben, als ich noch ein Kind war, und Hitler hat meine beiden Schwestern umgebracht. Zu Hause haben wir Jiddisch und Polnisch gesprochen, aber ich habe auch Deutsch und Russisch gelernt. Mein Vater liebte das Theater, und er hat mich oft mitgenommen. Erst war ich Kinderdarsteller, dann, während des Krieges, bin ich auf die Schauspielschule gegangen, erst in Lódź, dann in Warschau.

1917 spielte die berühmte Wilnaer Truppe in Warschau, und sie suchten einen jungen Darsteller. Ich habe vorgesprochen und wurde engagiert; wir zogen in Europa herum und im Dezember 1923 nach New York. Wenig später hat mich Rudolf Schildkraut – für mich der größte Schauspieler des Jahrhunderts! – nach Hollywood geholt; ich bekam eine kleine Rolle in der Synagogenszene im „Jazz Singer“, dem ersten Tonfilm. Weil fast alle Mitwirkenden Juden waren, haben wir einmal nur Jiddisch gesprochen, sehr zum Ärger der Warner Brothers, die gerade an dem Tag nach dem Rechten sehen wollten.

Lange Bärte

1929 bekam ich einen amerikanischen Paß, und Maurice Schwartz holte mich nach New York zurück. Dort erzählte ich jedem, den ich traf, von meiner Idee, einen jiddischen Tonfilm zu machen. Meine Freunde lachten mich aus; erstens gebe es keinen Markt, und zweitens hätte ich doch wohl kein Geld. 1932 endlich konnte ich das Gegenteil beweisen. Ein Freund von mir hatte „Joseph in Ägypten“ aufgetrieben, einen italienischen Stummfilm, und bat mich, bei der jiddischen Synchronisation zu helfen. Das war gar nicht schwer, weil die meisten Schauspieler lange Bärte trugen und man die Lippen nicht sehen konnte. Als Gage bekam ich eine Kopie des Films und die außeramerikanischen Rechte, und als ich zu einem Gastspiel in Montreal war, nahm ich die Kopie mit und führte sie vor. Der Film war die Sensation.

Als ich im Herbst 1933 für eine Saison ans jiddische Theater in Lemberg engagiert wurde, nahm ich den vertonten Stummfilm mit und machte einen Vertrag mit polnischen Verleihern. Es war der erste jiddische Tonfilm, der in Polen gezeigt wurde – einem Land mit dreieinhalb Millionen Juden. Es war wie Lindberghs Ankunft in Paris. Der Film lief über 30 Wochen in Warschau und dann im ganzen Land, und ich verdiente viel Geld. 1935 heiratete ich Anette, eine Jurastudentin.

Dann war es soweit: Ich hatte genug Geld, um in Polen, wo die Produktionskosten viel geringer waren als in Amerika, einen jiddischen Film zu drehen. Dazu brauchte ich einen Star vom jiddischen Theater in New York. Ich verhandelte zunächst mit Maurice Schwartz, der gerade in Warschau gastierte, aber der wollte unbedingt Tevye der Milkhiker [„Tewje der Milchmann“, aus dem später das Musical „Fiddler on the Roof“ wurde, die Red.] spielen, weil er von Scholem Alejchems Erben die Rechte gekauft hatte. Ich hielt die Thematik für gefährlich; Schwartz hat „Tevye“ 1939 auf einer Kartoffelfarm in Long Island gedreht.

Dann dachte ich an Molly Picon, in den zwanziger Jahren der Star der jiddischen Musicals, die damals in Paris lebte. Mir war ein kleines Buch aus Schweden in die Hände gekommen, in dem die Geschichte einer Braut erzählt wurde, die am Hochzeitstag mit den Musikanten wegläuft. Molly Picon war für die Rolle der Braut zu alt und jungenhaft; für sie erfand ich den Part einer Musikerin, die sich als Junge verkleidet.

Ich nahm den nächsten Zug nach Paris und las ihr aus dem Drehbuch vor. Als ich zur Szene gelangt war, in der die Musiker in das Dorf kommen, unterbrach mich Jacob Kalich, Mollys Mann und Manager: „Joe, Molly wird den Film machen.“ Ich war erleichtert, denn mehr Text hatte ich gar nicht. Wir besiegelten den Vertrag per Handschlag, und ich schrieb einen Scheck über 5.000 Dollar aus, die Hälfte von Mollys Gage, eine Menge Geld. Der gesamte Film hat mich 50.000 Dollar gekostet. Alle anderen Mitarbeiter waren Polen und weit billiger.

Jetzt konnte es losgehen. Wir drehten den Film in fünf Wochen ab, in einem Warschauer Studio und im Schtetl Kazimierz. Es war der erste jiddische Film mit Außenaufnahmen. Für die Hochzeitsszene lud ich die gesamte Bevölkerung ein, und wir feierten ein richtiges Fest. Wir filmten bis sieben Uhr morgens, und ich ließ immer wieder Getränke und frische Speisen auffahren, um die Leute bei Laune zu halten. Eine alte Frau war ganz überrascht von so großem Überfluß. Wir erklärten ihr, daß wir einen Film drehten. Darauf sagte sie: „Warum haben Sie mir das nicht früher gesagt. Ich hätte meine Tochter verheiraten können. Sie hat zwar einen Bräutigam, wir aber haben kein Geld für die Hochzeitsfeier.“

Im September 1936 hatte „Jidl mitn Fidl“ in Warschau Premiere – das war der Start des erfolgreichsten jiddischen Films aller Zeiten. Am Silvesterabend 1936 spielte er zum ersten Mal in einem Kino am Broadway in New York und im folgenden Jahr in Westeuropa, Südafrika, Australien und, hebräisch synchronisiert, in Palästina. 1937 kamen zwei Herren vom Jüdischen Kulturbund in Berlin in mein Büro in Warschau und sagten, sie wollten „Jidl“ unbedingt in Deutschland vorführen, denn die deutschen Juden hätten das Lachen verlernt. Ich war natürlich einverstanden, mußte aber erst eine Kopie an Goebbels schicken, weil er persönlich die Erlaubnis geben mußte. Er tat es; ich habe gehört, daß ihm „Jidl“ sehr gefallen hat. Im April 1938 wurde „Jidl“ in Berlin vorgeführt, später auch in anderen Städten.

In diesen Jahren lebte ich im Winter in New York und im Sommer in Warschau. 1937 drehte ich „Der Purimshpiler“ wieder im Studio in Warschau und im Schtetl Kasimierz. Leider war der Film nicht so erfolgreich. Die Nazis haben einige Jahre später für ihren Propagandafilm „Der ewige Jude“ eine Karnevalszene kopiert und behauptet, dies seien normale religiöse Riten der Juden.

Im Frühjahr 1938 war Hitler in Österreich und der Tschechoslowakei einmarschiert, und ich wußte, was kommen würde. Ich wollte den Menschen die Schrecken des Krieges vor Augen führen, zeigen, wie Familien und Städte zerstört werden. Mit Mendel Osherovits, einem Journalisten des Forwerts [jiddische Tageszeitung, für die auch die Brüder Singer schrieben, die Red.] schrieb ich nach dem Lied „A Brivele der Mamen“ von Solomon Schmulewitz in New York ein Drehbuch. Alle meine Filme kreisen um einen Song, und alle zeigen einen typisch jüdischen Brauch: in „Jidl“ eine Hochzeit, im „Purimshpiler“ das Purimfest, in „Mamele“ das Laubhüttenfest und in „Brivele“ einen Seder, das Festmahl beim Pessachfest. Ich hatte wieder ein fabelhaftes Team: Für die Rolle der Mama engagierte ich Lucy Gehrman aus New York, alle andere Rollen spielten Schauspieler vom jiddischen Theater in Warschau.

„A Brivele der Mamen“ erzählt die Geschichte einer Familie, die aus Not auseinandergeht: David, der Vater, singt gut, ist aber ein Taugenichts. Er geht nach Amerika; Miriam, die Tochter, brennt mit einem Tanzlehrer durch; Mejr, der ältere Sohn, träumt vom Studium, doch als der Krieg beginnt, wird er eingezogen und fällt; Arele, der jüngere Sohn, wird zum Vater nach Amerika geschickt, und schließlich, am Ende des Krieges, ist das Schtetl zerstört und Dobrisch, die Mutter, ganz allein. Eine Hilfsorganisation bringt auch sie nach Amerika, und in einem Konzert findet sie ihren Sohn Arele wieder, der inzwischen ein berühmter Sänger geworden ist.

Begehrte Rollen

Während der Vorbereitungen für „A Brivele der Mamen“ schrieb mir Jacob Kalich, um zu fragen, ob ich nicht wieder mit Molly Picon drehen wollte, und er schlug eine Filmversion von „Mamele“ vor, ein Theaterstück über ein Mädchen, das seiner sterbenden Mutter verspricht, sich um die Familie zu kümmern. Da ich ahnte, daß wir im Jahr darauf vielleicht nicht mehr in Polen arbeiten könnten, nahm ich das Angebot an. Wir drehten „Mamele“ vorweg mit dem Stab von „A Brivele der Mamen“, im Studio in Warschau und in meiner Heimatstadt Lódź. Es war sehr deprimierend dort: Alle wollten als Statisten mitspielen, weil sie hofften, daß ein Verwandter in Amerika sie erkennen und zu sich holen würde.

Das Warschauer Studio war mit brandneuer deutscher Tontechnik ausgestattet, und zwei deutsche Tontechniker überwachten die Dreharbeiten. Mir kamen sie wie Spione vor, und später hörte ich tatsächlich, daß sie nach dem Einmarsch der Deutschen in Polen 1939 die Studios übernahmen und Nazipropagandafilme drehten.

Als im November 1938 in Deutschland die Synagogen brannten, habe ich in Warschau „Mamele“ und „A Brivele der Mamen“ geschnitten. „Mamele“ hatte am Weihnachtsabend in New York Premiere, „A Brivele der Mamen“ hielt ich noch zurück, weil ich nicht wußte, ob es 1939 noch möglich sein würde, einen Film in Polen zu drehen. Schließlich konnte ich ihn in Europa nicht einmal mehr vorführen; am 14. September, zwei Wochen nach Kriegsausbruch, hatte „A Brivele der Mamen“ in New York Premiere. Ich glaube, er ist, künstlerisch gesehen, mein bester Film, und es war der ertragreichste. Er wurde sogar für den fremdsprachigen Oscar nominiert, aber er war mein letzter Film. Hitler hat mein Publikum ermordet, sechs Millionen mögliche Zuschauer, und dazu noch die Künstler.

Aufgezeichnet im August 1993 in einem Altersheim in Little Neck, Long Island.

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