: Vietnam: Verharren vor dem Sprung
Wirtschaftlich boomt Vietnam, eine Zweiklassengesellschaft entsteht, aber politisch herrscht noch Eiszeit. Mit diesem Widerspruch befassen sich die regierenden Kommunisten ab heute auf ihrem Parteitag ■ Von Jutta Lietsch
Im „Museum über die amerikanischen Kriegsverbrechen“ von Ho-Chi-Minh-Stadt zeugen Fotos, Karten und Waffen nicht nur von den Greueln des Vietnamkrieges. Porträts gefangener Mitglieder einer „Alliance of Vietnamese Revolutionary Parties“, die im Exil in den USA und Kanada gelebt hatten, blicken auf die Besucher herab. Die Exilvietnamesen, erklärt der Text unter den Fotos, wurden gefaßt und verurteilt, bevor sie internationale Hotels und den Bahnhof von Ho-Chi-Minh- Stadt in die Luft jagen konnten.
Auch nach dem Sieg der Kommunisten 1975, so lautet die Botschaft, haben Spione und Saboteure immer wieder versucht, Vietnam zu erschüttern. Ständige Wachsamkeit ist daher weiterhin geboten, glaubt die herrschende Kommunistische Partei – auch wenn aus den politischen und militärischen Feinden von einst heute offiziell freundschaftliche Geschäftspartner geworden sind. Vor zehn Jahren hatte Vietnams Regierung, gedrängt von der wirtschaftlichen Not, eine Periode der Öffnung nach außen eingeleitet. Privatbetriebe wurden wieder zugelassen; für ausländische Unternehmen trat ein relativ liberales Investitionsgesetz in Kraft. Nachdem die USA 1995 ihr Embargo aufhoben, erhielt Vietnam auch Kredite internationaler Geldinstitute.
Die Folge: Vietnam wandelte sich in kurzer Zeit von einem von Inflation und Hungerkrisen geschüttelten Land in einen „kleinen Tiger“, dessen Wirtschaft zuletzt jährlich über neun Prozent wuchs und das zu einem wichtigen Reisexporteur wurde. Eine politische Liberalisierung blieb allerdings aus: Parteikritiker wandern bis heute umstandslos ins Gefängnis. Jetzt fragt sich Vietnams KP, wie sie die mit der ökonomischen Öffnung verbundenen ausländischen Einflüsse kontrollieren und zugleich den Unmut der Bevölkerung über Korruption und Willkür der Funktionäre ablenken kann.
Zehn Jahre nach dem Beginn der Reformen geht vielen Parteifunktionären die Öffnung nach außen zu weit. „Die glauben, sie haben nicht jahrzehntelang im Dschungel gekämpft, um jetzt das Land von ausländischen Investoren ,kaufen‘ zu lassen“, sagt ein Ökonom. Prostitution, Drogen, Aids, Korruption und wachsende Kluft zwischen Arm und Reich sind in ihren Augen Folge des Abkehrs von den wahren Idealen der Partei. Deshalb müsse die Privatwirtschaft wieder eingedämmt werden. Solche Tendenzen sind in dem Dokument enthalten, das die Grundlage des heute beginnenden 8. Parteitages bildet.
„Uns ging es noch nie so gut wie heute!“ sagt dazu der Wirtschaftsberater der Parteispitze, Nguyen Van Oanh. Er hält es für ganz unmöglich, daß die Reformen zurückgedreht werden. Für ihn ist es völlig normal, daß am Anfang der Privatisierung einige Leute schneller reich werden als andere: „Da entsteht eine Mittelschicht. Diese Leute mit Unternehmergeist bringen die Wirtschaft voran.“
Der Journalist Kiet in Ho-Chi- Minh-Stadt, dem früheren Saigon, kann diesen Optimismus nicht teilen: „Wo ist sie denn, diese Mittelschicht?!“ fragt er empört. Wohlhabend wird in seinen Augen derzeit nur, wer über die richtigen Beziehungen verfügt – ins Ausland oder zu einflußreichen Parteifunktionären. Für alle anderen aber werde das Leben härter. Die Erziehung der Kinder zum Beispiel kostet jetzt viel Geld. „Sie sagen, wir sollen unseren Kindern eine gute Bildung geben, aber wovon sollen wir das bezahlen?“ Denn die schlecht dotierten Lehrkräfte versuchen jetzt, berichtet Kiet, auf Teufel komm raus Geld zu verdienen. Bei seiner Tochter funktioniert das so: In der normalen Schulzeit kümmert sich die Lehrerin kaum um die Kinder, um ihnen nachmittags teuren Zusatzunterricht aufzuzwingen.
Eine Saigoner Geschäftsfrau hat ähnliche Erfahrungen gemacht: Um einen Platz für ihre Tochter an einer staatlichen Schule zu bekommen, mußte sie – unter der Hand – knapp tausend Mark bezahlen, obwohl offiziell Schulgeldfreiheit herrscht. „Einen Teil bekommen die Lehrer, der andere wird zur Instandhaltung der Gebäude verwandt.“ Für Angestellte, die nur siebzig bis achtzig Mark im Monat verdienen, sind harte Zeiten angebrochen. Umgerechnet 220 Mark, so schätzen Ökonomen, braucht eine dreiköpfige Familie im Monat. Jeder ist deshalb auf ein oder zwei Zusatzjobs oder auf Bestechungsgelder angewiesen. Kürzlich habe er seinen alten Professor auf der Straße Zigaretten verkaufen sehen, sagt Kiet, „da
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habe ich so getan, als hätte ich ihn nicht bemerkt“. Auf dem Lande verdienen die Menschen noch weniger: zwischen 150 und 300 Mark im Jahr. Offiziell gilt als arm, wer weniger als 15 (auf dem Land) oder 20 Kilogramm Reis im Monat kaufen kann – das sind ein Drittel der Bevölkerung.
Die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich ist besonders in Ho-Chi-Minh-Stadt zu spüren. Kinder betteln auf den Straßen, in der Nacht lagern Bäuerinnen neben ihren Körben auf den Bürgersteigen, weil sie sich kein Dach über den Kopf leisten können. Ein Drittel der sechs Millionen Einwohner des früheren Saigon sind Landflüchtige, die in der Stadt Arbeit suchen. Da sie nicht offiziell registriert sind, haben sie kein Anrecht auf medizinische Versorgung und Schulunterricht für die Kinder. In den Geschäften ist derweil alles zu kaufen: importierte Hi-Fi-Anlagen, Fernseher und Computer ebenso wie moderne Haushaltsgeräte. Wer genug sparen konnte, leistet sich einen der japanischen Motorroller, die zu Tausenden über die Kreuzungen brummen. Privatwagen gibt es noch kaum. Fünftausend neue Autos seien 1995 in ganz Vietnam verkauft worden, sagt ein deutscher Wirtschaftsfachmann.
Vom neuen Reichtum zeugen die zahlreichen Hotels, die mit ihren spiegelnden Fassaden und klassizistischen Säulendekoren zwischen Monsun-verwitterten Geschäftshäusern hervorragen. Nicht nur Ausländer steigen dort ab – auch Vietnamesen. Und auf schmalen Grundstücken in den Seitengassen wachsen hinter schmiedeeisernen Gittern Stadtvillen, türmchenverziert und selbstbewußt. „90.000 Mark hat das Haus gekostet“, berichtet ein Maler in Hanoi stolz. Er verkauft seine Werke vor allem im Ausland, kann sich teure Klimaanlagen, Küchengeräte und Musikanlagen leisten und seine Gäste mit amerikanischen Whisky bewirten. Reichtum wird in Vietnam nicht mehr versteckt.
Möglich machen das auch die US-Dollars, die Schwestern, Onkel oder Schwager aus dem Ausland überwiesen oder im Köfferchen mitgebracht hahen. Wie viele Milliarden die Auslandsvietnamesen in ihre Heimat schicken, weiß niemand genau. Anders als die Auslandschinesen kommen die „Viet Kieu“ bislang jedoch nur selten in ihre Heimat zurück, um ein eigenes Unternehmen oder ein Joint-venture zu gründen.
Wer keine Verwandte im Ausland hat, versucht mit Geschick zu überleben. „Mir ist es ziemlich egal, was im Bericht des Parteitages steht“, sagt der Journalist Kiet resigniert. Es gebe so viele Berichte, so viele Regeln, so viele Gesetze, an die sich ohnehin niemand halte – weder die Regierung, noch die Bevölkerung. „Da die Regierung uns nicht erlaubt, laut unsere Meinung zu sagen, müssen wir eben in aller Stille versuchen, uns durchzuwursteln.“
Die Parteiführung in Hanoi versucht derweil die Massen auf traditionelle Weise zu mobilisieren. Aktivisten schmücken die Straßen mit roten Fahnen und Spruchbändern, der weite Platz zwischen Versammlungshalle und Ho-Chi- Minh-Mausoleum ist bereits für das Publikum gesperrt. Auf der Trang-Tien-Straße am „See des zurückgegebenen Schwertes“ übertragen Lautsprecher Parolen und Nachrichten. Bei allen Sicherheitsbehörden herrscht erhöhte Wachsamkeit. Und immer wieder erfolgt in Gesprächen die Bitte: „Zitieren Sie mich auf keinen Fall! Ich will keinen Ärger.“
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