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Helfen um jeden Preis?

Das „Recht auf Leben“ als Lebenspflicht? Ist es gerechtfertigt, Patienten auch dann am Leben zu erhalten, wenn dies für sie qualvoll ist? In der Sterbehilfediskussion werden die Wertvorstellungen vieler Patienten ignoriert  ■ Von Andreas Kuhlmann

Wenn es um Sterbehilfe geht, so scheint vor allem eines strittig zu sein: Ob das gezielte Töten von schwerkranken Personen auf deren ausdrücklichen Wunsch hin oder auch ohne ihre Zustimmung zulässig sein soll. Einig ist man sich hingegen zumindest auf der Ebene allgemeiner Proklamationen darüber, daß bei Kranken auf aufwendige therapeutische Maßnahmen verzichtet werden soll, wenn eine Lebensverlängerung für diese Personen nur ein in hohem Maß eingeschränktes oder gar qualvolles Weiterexistieren mit sich bringen würde.

Bei der Frage, ob „passive Sterbehilfe“, also der Behandlungsverzicht im fortgeschrittenen Stadium einer schweren Erkrankung, erlaubt, manchmal sogar geboten ist, geht es längst nicht mehr um die Alternative ja oder nein. Weil in dieser Frage rein prinzipielle Erwägungen aber nicht weit führen, kommt man nicht darum herum, die konkrete Lebenssituation von schwerkranken Personen einzuschätzen, ihre Lebensqualität zu „bewerten“, um beurteilen zu können, in welcher Weise sie medizinisch unterstützt werden sollen.

Welche Probleme solch eine Abschätzung aufwirft, haben deutsche Gerichte in den vergangenen Jahren zu spüren bekommen. Sie mußten über passive Sterbehilfe befinden, die einer nicht mehr entscheidungsfähigen Person geleistet werden sollte. Der Arzt und der Sohn einer Patientin hatten im März 1993 in einem Pflegeheim beantragt, bei der 72jährigen Frau die künstliche Ernährung abzusetzen.

Versuchter Totschlag an der eigenen Mutter?

Die Patientin war drei Jahre zuvor, nachdem sie einen Herz-Kreislauf- Stillstand von fast 15 Minuten erlitten hatte, von einem Notarzt reanimiert worden und befand sich seither in einem Wachkoma. Das Pflegepersonal folgte der Anweisung des Arztes und des Sohnes nicht, schaltete vielmehr das Vormundschaftsgericht ein, das die Fortsetzung der Nahrungszufuhr anordnete. Die Patientin starb dann, nachdem ein Lungenödem aufgetreten war, ein halbes Jahr später. Der Arzt und der Sohn wurden im März 1994 wegen „versuchten Totschlags in einem minderschweren Fall“ vom Landgericht Kempten in erster Instanz zu Geldstrafen verurteilt.

Der Bundesgerichtshof hat dieses Urteil im September desselben Jahres aufgehoben und den Fall zur Neuverhandlung ans Landgericht zurückverwiesen. Die Bundesrichter stellten fest, „daß angesichts der besonderen Umstände des hier gegebenen Grenzfalles ausnahmsweise ein zulässiges Sterbenlassen durch Abbruch einer ärztlichen Behandlung oder Maßnahme nicht von vornherein ausgeschlossen ist, sofern der Patient mit dem Abbruch mutmaßlich einverstanden ist“. Vom Landgericht wurden die beiden Beschuldigten dann im Mai 1995 freigesprochen.

Nach Anhörung mehrerer Freunde und Angehöriger der Kranken hatte sich ergeben, daß bei letzterer eine „Grundeinstellung“ bestanden habe, „daß sie nicht dahinvegetieren/dahinsiechen möchte, nicht an Schläuchen hängen möchte und nicht völlig abhängig von fremder Hilfe sein möchte“. Der Sohn der Kranken habe, bevor er dem Behandlungsabbruch zustimmte, mit den Zeugen Rücksprache gehalten; deshalb hätten er sowie der Arzt mit gutem Grund davon ausgehen können, mit ihrer Entscheidung dem „mutmaßlichen Willen“ der Patientin zu entsprechen.

Künstliche Ernährung ist keine Basispflege

Leider hat der BGH in der Begründung seines Urteils vom September 1994 mit keinem Satz erläutert, was denn die „besonderen Umstände“ dieses „Grenzfalles“ gewesen sind. Zum einen handelt es sich bei der künstlichen Ernährung einer Person, die am apallischen Syndrom leidet, nicht mehr um einen Teil der „Basispflege“, die man selbstverständlich jedem hilflosen Menschen schuldet. Sie stellt vielmehr eine aufwendige Prozedur dar, die mit großer Unruhe für den Kranken verbunden ist. So wurden bei der Patientin in Kempten insgesamt sechs ambulante Kontrollen und Neuplazierungen der ihr eingelegten Magensonde durchgeführt; zusätzlich waren sieben Krankenhausaufenthalte aus dem gleichen Grund notwendig. Und zum anderen sind die Chancen für eine ältere Person, die sich mehr als einige Monate im Wachkoma befindet, auch nur einen Teil ihres Bewußtseins wiederzuerlangen, minimal. Ihre Situation ist eine völlig andere als etwa diejenige jugendlicher Unfallopfer mit apallischem Syndrom: Diese haben, bei frühzeitig einsetzenden Rehabilitationsbemühungen, wesentlich bessere Aussichten.

Wer sich etwas genauer mit dem „Kemptener Fall“ befaßt, kann gar nicht erst auf den Gedanken kommen, die beiden Beschuldigten hätten sich die Patientin „möglichst risikolos vom Halse schaffen“ wollen, wie von Oliver Tolmein unlängst in der taz unterstellt wurde. Vielmehr zeigen die Umstände dieses Falles, daß die von Tolmein eingeklagte „individuelle Verantwortung des behandelnden Arztes“ sich hier gerade darin bewährte, daß die konkreten Lebensumstände der Patientin Berücksichtigung fanden. Den Entschluß, auf weitere künstliche Ernährung bei einer schwer geschädigten, auf Dauer bewußtlosen, alten Frau zu verzichten, schlicht als „Verhungernlassen“ (Tolmein) zu bezeichnen, bezeugt günstigstenfalls Problemverdrängung, wenn es sich nicht – schlimmer – um eine gezielte Diffamierung der verantwortlichen Personen handelt.

Natürlich muß es zunächst schockieren, wenn man sich vorstellt, daß einem völlig hilflosen Menschen die Nahrung vorenthalten wird. Auch sollte man Ärzte sicher nicht – etwa mit Hilfe von Patientenverfügungen – dazu verpflichten wollen, in bestimmten Situationen auf einen elementaren Akt der Fürsorge wie das Nahrunggeben zu verzichten. Umgekehrt aber sollte man nicht von der individuellen Verantwortlichkeit der Mediziner sprechen und zugleich abstreiten, daß es Situationen gibt, in denen schon eine vergleichsweise unspektakuläre Maßnahme wie die künstliche Ernährung für den Patienten weitreichende, ihm möglicherweise nicht zuträgliche und von ihm nicht gewünschte Auswirkungen haben kann.

Singers Gegner kleben an seinen Begriffen

Kritiker der Sterbehilfe wie Tolmein haben sich von Bioethikern wie Peter Singer eine allzu starke Fixierung auf die Frage nach dem „Recht auf Leben“ aufnötigen lassen. Mit gutem Grund wird zwar moniert, daß Singer zum Beispiel Neugeborenen das Lebensrecht abspricht und deshalb ihre Tötung immer dann für legitim hält, wenn die Eltern oder die Gesellschaft sich durch diese Kinder belastet fühlen. Bei Singers Kritikern wird jedoch aus dem proklamierten „Recht auf Leben“ häufig eine „Pflicht zum Weiterleben“.

Dieser Lebenspflicht muß dann eine sehr weitreichende Behandlungspflicht auf seiten der Ärzte entsprechen. So etwa argumentiert Tolmein, wenn er am Schluß seines Artikels verlangt, das „Ziel einer solchen Debatte über die Perspektiven der Medizin und die Probleme des intensivmedizinischen Fortschritts kann nur die Verbesserung der Lebenssituation von behinderten und schwerkranken Menschen sein“.

Mit solchen Statements drückt man sich vor der Frage, was denn geschehen soll, wenn die Situation eines Patienten nach aller ärztlichen Erfahrung nicht zu verbessern ist, wenn vielmehr alles dafür spricht, daß sich der Zustand bei Lebensverlängerung noch verschlechtern wird. Natürlich sind aus der Erfahrung abgeleitete Prognosen fehlbar, und natürlich kann es vorkommen, daß Angehörige und Ärzte auf eine weitere Behandlung nur deshalb verzichten, weil ihnen der Patient lästig wird. Doch wenn man solchen Unwägbarkeiten und Gefahren dadurch zu begegnen sucht, daß man auf den massiven Einsatz intensivmedizinischer Verfahren um jeden Preis setzt, dann bleibt man damit vielleicht dem eigenen, überstrapazierten Helferethos treu. Den Wünschen und Wertvorstellungen vieler Patienten wird man so aber sicher nicht gerecht.

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