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Ein Tschernobyl im Wartestand

Uranhalden aus sowjetischer Zeit bedrohen vier Länder Mittelasiens. Die warten bis jetzt vergebens auf Hilfe aus dem Westen  ■ Aus Ferghana Thomas Ruttig

Um die fragwürdige Ehre, woher das Uran für die erste sowjetische Atombombe kam, streiten sich noch heute Aue im sächsischen Erzgebirge und die mittelasiatische Republik Tadschikistan. Wo sich heute die gefährlichste Uranhalde der GUS befindet, ist schon leichter zu beantworten: in Kirgistan, dem nordöstlichen Nachbarstaat Tadschikistans. Das behauptet jedenfalls die Regierung des westlich gelegenen Usbekistans.

Die drei Staaten teilen sich mit Kasachstan den Lauf des Flusses Syr-Darja, des Jaxartes der alten Griechen, dem zweitmächtigsten Fluß Mittelasiens. In einer Länge von 2.860 Kilometer schlängelt er sich vom Tienschan-Gebirge Kirgistans durch Gebirgstäler, Steppen und Wüsten bis zum Aralsee. Wo der Fluß ins Ferghana-Tal eintritt, vereinigt er sich mit einem kleinen Fluß namens Maili-Su. Für Wladimir Konjuchow, Vizechef des Staatlichen Umweltkomitees Usbekistans und damit im Range eines Vizeministers, verbindet sich dieser Name mit einer potentiellen Gefahr größten Ausmaßes, einer „radioaktiven Verseuchung des Syr-Darja bis zum Aralsee“.

In der Umgebung der gleichnamigen Stadt Maili-Su befand sich eines der ersten Uranbergbaugebiete der Sowjetunion. Schon 1945 wurde das radioaktive Metall dort abgebaut, so Konjuchow. Heute sind bei Maili-Su über 20 Geländeabschnitte bekannt, wo Uran gefördert oder gesucht wurde. Bis 1968 wurden dort Konjuchows Behörde zufolge 10.000 Tonnen Uran gewonnen. Als vor fast 30 Jahren die Produktion eingestellt wurde, sprengte man die Aufbereitungsanlagen einfach.

Was blieb, waren ungeheure Mengen an Abraum. Sie füllen insgesamt 36 sogenannte Speicher entlang des Mailu-Su-Flusses. Dahinter verbergen sich mit Dämmen abgeschlossene Täler. Das Gestein wurde dort abgekippt und mit Erdschichten abgedeckt. Weil die Verhüttungstechnik für Uran damals noch in den Kinderschuhen steckte, enthalten die Halden noch reichlich strahlendes Material. „Die radioaktiven Abfälle sind feingemahlene Teilchen in pastenartigem, halbflüssigem Zustand“, heißt es im Bericht des Komitees.

Rutschende Erde bedroht die radioaktiven Lager

Doch inzwischen gerät in Kirgistan die Erde in Bewegung. Neben den in der Region nicht seltenen Beben ist eine Ursache dafür das Flugsalz, das vom austrocknenden Aralsee bis in die Hochgebirge Mittelasiens getragen wird und die Gletscher zum Abschmelzen bringt. Schmelzwasser wiederum verursacht Erdrutsche, die inzwischen so häufig sind, daß z.B. die Deutsche Welthungerhilfe in Kirgistan regelmäßig Nothilfe leistet.

Zehn laut Konjuchow besonders gefährdete Uranhalden enthalten radioaktive Teilchen – vor allem Radium – mit einer Gesamtaktivität von 100.000 Milliarden Becquerel. „Noch“, so der usbekische Vizeminister, „ist keine der Uranhalden abgerutscht.“ Aber passieren kann das jederzeit.

Die radioaktiven Teilchen würden direkt in intensiv landwirtschaftlich genutzte Flächen geschwemmt: Das Ferghana-Tal ist die am dichtesten besiedelte Region Mittelasiens. Hier leben 14 Millionen Menschen auf einer Fläche von der Größe von Rheinland- Pfalz. Für sie alle ist der Syr-Darja mit seinen Zuflüssen die Hauptquelle für Trinkwasser. Ein Erdrutsch flußaufwärts kann den in eine Baumwollplantage verwandelten ehemaligen Obstgarten Mittelasiens unbewohnbar machen. Das wäre ein Tschernobyl der zweiten Art.

„Das beunruhigt auch die kirgisische Regierung“, sagt Korjuchow, „aber Kirgistan ist zu arm, um dieses Problem zu lösen.“ In Usbekistan ist das nicht viel anders. Immerhin gab dort das Umweltkomitee 1995 1,1 Millionen Sum (etwa 22.000 US-Dollar) für die Überwachung und Studien aus. Benötigt werden jedoch etwa 3 Millionen Dollar. Die Ministerpräsidenten der Syr-Darja-Anrainer Kasachstan, Kirgistan und Usbekistan unterschrieben im April ein Abkommen, das die Halden von Maili-Su immerhin zum gemeinsamen Problem deklariert; das Bürgerkriegsland Tadschikistan hat andere Sorgen und schickte erst gar keinen Vertreter.

Die Mittel für die Problemlösung erhoffen sich die drei Staaten aus dem Westen. „Die Internationale Atomenergiebehörde kennt das Problem“, sagt Konjuchow. Aber gerührt habe sie sich bisher nicht. Für Konjuchow ist unverständlich, „daß sich dieses Problem außerhalb des Bewußtseins der Weltöffentlichkeit abspielt“.

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