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Anarchy in the DK

Zwei Flaschenwürfe bewegen die Sex Pistols zum vorzeitigen Rücktritt, doch die Revolution findet derweil in einem Nebenzelt statt: Das Roskilde-Festival begann mit Neil Youngs größten Erfolgen und endete bei David Bowie als Ikone  ■ Von Noel Rademacher

Vor elf Jahren war das Eintrittsticket für Roskilde nicht bloß das allererfreulichste Geburtstagsgeschenk, sondern eine Reliquie. Unvergeßlich die Fahrt mit der Fähre und all ihren zottelhaarigen Passagieren, die schon eifrig ihre Isomatten ausrollten und Unmengen von Spirituosen in ihren Duty- Free-Plastikkörben stapelten. Dann das seltsame Ritual an den Toren des Festivalgeländes, wo man im Tausch gegen seine Eintrittskarte ein farbig geflochtenes Armband umgebunden bekam, dessen schimmernde Fäden sich um einen Smaragd aus Gummi winden – kein echter Roskilde- Fahrer würde jemals wagen, dieses Band wieder vom Handgelenk zu schneiden. Unnötig zu erwähnen, daß manche Künstler von damals heute eher als marginal eingestuft werden. Aber das Konzert von Paul Young war echt Spitze. In die Geschichte sind statt dessen The Clash eingegangen und Leonhard Cohen, der bei seinem Auftritt Tränen vergossen haben soll.

Auch in diesem Jahr mangelte es beim Roskilde-Festival nicht an historischen Momenten – zumindest was den Pop-Kosmos betrifft: Patti Smith beendete ausgerechnet hier ihre lange Bühnen-Abstinenz, um in Anschluß auf eine kleine Europatournee zu gehen – und machte ihre Sache gut. Neil Young brachte Crazy Horse (unbestritten seine beste Begleitband) mit. Daß er am ersten Abend spielte und David Bowie am letzten, ließ bereits ahnen, daß das Festival versöhnlich anfangen würde, um in einer eher fremdartigen Atmosphäre zu enden.

Young und Crazy Horse spielten mit viel Leidenschaft, doch überraschungslos die alte Greatest-Hits-Sammlung herunter. Das Gegenteil bei Bowie: Mit bewundernswerter Konsequenz versucht er, den Hitkatalog zu vermeiden, und coverte statt dessen lieber die Songs alter Wegbegleiter. Leider ist der Sound seiner Band weder originell, noch verschafft er der eigentlichen Stärke des Altglamourstars angemessenen Raum: seiner Stimme. Was bleibt, ist die Faszination an einer Ikone, die Musik geht als Nebensache durch.

Die gut besetzte Riege der siebziger Jahre hat also in Roskilde eher enttäuscht. Das gilt wohl vor allem für die Sex Pistols, die nach 18jähriger Pause auf der Orange Stage, dem Markenzeichen des Festivals, standen – allerdings auch nur für wenige Minuten: Johnny Lydon alias Johnny Rotten ärgerte sich über das Publikum, weil es mindestens zweimal mit Flaschen geworfen hatte und machte schließlich seine Drohung wahr. Er verließ einfach die Bühne: „If you can't behave disciplined, fuck you!“ Worauf der Rest der Band ebenfalls abtrat. Ob die großen Punk- Anarchisten mittlerweile tatsächlich so empfindlich geworden sind, daß sie sich schon durch zwei gezielte Flaschen aus Fanhand zum geordneten Rückzug gezwungen sehen, oder ob hier nur nach einem Anlaß gesucht wurde, um ein bis dato blutleeres Konzert so schnell wie möglich zu beenden, spielt gar keine Rolle. Letztlich hat niemand hier dieser unsäglichsten aller Reunions (nur noch übertroffen von den neuen „Beatles“) mehr Bedeutung beigemessen als etwa der kommerziellen Ausbeutung des jüngsten Punk-Revivals in den USA. Ein abgebrochener Gig wird eben auch bezahlt.

Fast möchte man den Flaschenwurf als allgemeinen Aufstand gegen ebenjene Altherrenriegen deuten, die sich recht dreist auf den Bühnen tummeln, als würden sie die Zukunft der Musik noch immer mitbestimmen und die Stadien füllen, als gebe es keinen Nachwuchs, dem es Platz zu machen gilt. Daß es ihn gibt, dafür lieferte das diesjährige Roskilde genügend Beispiele: Lou Barlow gab mit seiner Band Sebadoh nicht nur die witzigste Pressekonferenz des Festivals, sondern präsentierte sich einmal mehr als extrem aufgeweckter Songwriter. Eine Überraschung waren die Flaming Lips: Mit ihrem psychedelischen Bombastrock und dem gebrochenen Gesang gelang ihnen als einziger Band, die große Orange Stage wirklich zu füllen.

Denn offensichtlich war die Metal-Fraktion zu sehr auf die große Bühne konzentriert worden – mit dem Nachteil, das die kleineren Acts in den anderen sechs Zelten oft unter dem Lärm begraben wurden. Bands wie Slayer oder Sepultura mag man getrost zurufen: Gut gebrüllt, doch die musikalische Revolution findet im Nebenzelt statt! Vor allem im Dee-Day- Zelt, das für Techno, Trance und Trip Hop vorbehalten ist, konnte man allerhand Entdeckungen machen, wie etwa die Arbeit des jungen Japaners Ken Ishii, der seine Dancetracks mit japanischen Comicfilmen korrespondieren läßt. Im Up-Stage-Zelt wird traditionelle skandinavische Volksmusik mit Ambientsounds unterlegt, während Online-Künstler ihre Songs dem Publikum vorstellen.

Selbst die Befürchtung, das einst relativ überschaubare Roskilde im Zuge von Lollapalooza- Festival-Touren und Woodstock II nicht mehr wiedererkennen zu können, verflüchtigte sich im Laufe der drei Tage. Seit MTV Mitsponsor ist, pilgern jährlich 90.000 Zuschauer hierher, fast doppelt so viele wie vor elf Jahren. Mehr sollen es auch nicht mehr werden. Die Veranstalter haben, um dem Andrang überhaupt noch Herr zu werden, ein Kartenverkaufslimit festgesetzt. Seit zwei Jahren gilt deshalb auch hier: Wer zu spät kommt, den bestrafen die Schwarzmarktpreise. Diesmal hieß es bereits zwei Monate vor Festivalbeginn: „We're sold out!“ So gibt es auch für dieses letzte Pop- Paradies auf Erden (oder die letzte Schmuddel-Hippie-Ecke – wie man's nimmt) eine Zulassungsbeschränkung. Zusätzliche Kontrollen machen ein Durchschmuggeln unmöglich.

Trotzdem hat die Roskilde Foundation an ihren wichtigsten Prinzipien festgehalten: Niemand verdient am Festival, die Organisatoren arbeiten ehrenamtlich, jeglicher Profit geht an Hilfsorganisationen. Überhaupt ist es immer wieder erstaunlich, daß innerhalb des Festivalgeländes nur sehr selten Ordnungshüter auftreten. Jedem Besucher steht prinzipiell frei, sich so zu verhalten, wie er will. Selbst wenn Tische und Bänke zum Heizen von Lagerfeuern benutzt werden, erscheint keine Festivalpolizei. Und so wird weiterhin versucht, die ideale Mischung aus Selbstbestimmung und Anarchie in einem größtmöglichen Rahmen beizubehalten. Roskilde ändert sich nicht, auch wenn man die Sex Pistols vertrieben hat.

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