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Per Anhalter nach Olympia

August Goedrich wurde 1896 Zweiter im Rad-Marathon. Auf eigene Faust hatte sich der Norddeutsche nach Athen aufgemacht  ■ Von Marcus Scherf

Fast ohne deutsche Beteiligung ging die Premiere über die Bühne. Die ersten Olympischen Spiele der Neuzeit wurden 1896 vom Deutschen Reich weitgehend boykottiert. Nur eine knapp zwei Dutzend starke Rumpfmannschaft ging in Athen an den Start – und August Goedrich. Der Hamburger Radrennfahrer – anderen Quellen zufolge ein Niedersachse – gehörte nicht dem offiziellen Nationalteam an, sondern hatte sich auf eigene Faust nach Griechenland aufgemacht.

Die Deutsche Turnerschaft war fest zu einem Boykott entschlossen gewesen, da man sich bei der Vorbereitung der Spiele übergangen gefühlt hatte. Die allgemeine Empörung beförderte eine Zeitungsente der Pariser Boulevardgazette Gil-Bas. Danach sollte der IOC-Präsident Pierre de Coubertin behauptet haben, die Deutschen seien mit voller Absicht benachteiligt worden. Trotz mehrfacher Dementi mochten sich die nationalen Gemüter nicht beruhigen.

Die Vorwürfe richteten sich auch gegen Landsleute, die von einem Boykott nichts wissen wollten. „Die genannten Tatsachen sind für das nationale Gefühl so schwerwiegend, daß wir nach wie vor bedauern, daß nicht jeder deutsche Mann ebenso fühlt“, schimpfte Dr. Ferdinand Götz, Vorsitzender der Deutschen Turnerschaft, in Richtung Dr. Willibald Gebhardt. Der Berliner Arzt, gleichzeitig Mitglied des Olympischen Komitees, hatte allen Anfeindungen und nationalen Wallungen getrotzt und es gewagt, eine 21köpfige Olympiamannschaft zu bilden.

Um derlei ideologisches Getöse scherte sich August Goedrich nicht. Der Hamburger Radsportler folgte unbeirrt seinem Ziel: dem Start in Athen. Alleine machte sich der junge Mann von Mitte 20 auf den beschwerlichen Weg nach Griechenland. Nach einer abenteuerlichen Reise – per Anhalter und als blinder Passagier auf einem Dampfer – kam der Sportler, der nicht zur offiziellen Resttruppe gehörte, am 5. April 1896 in der griechischen Hauptstadt an. Gerade noch rechtzeitig, denn an diesem Tag war Meldeschluß.

Auf seinen großen Auftritt mußte Goedrich allerdings noch eine Woche warten, denn seine Disziplin war der Rad-Marathon. Dieses Highlight war eigens für die ersten Neuzeit-Spiele erfunden worden und elektrisierte die Massen allein schon aufgrund des Namens. Die Strecke führte von Phaleron, wo sich die Radrennbahn befand, nach Marathon und zurück: Insgesamt 87 Kilometer hatten die Teilnehmer zu bewältigen.

Am 12. April stand Goedrich dann endlich mit fünf Kontrahenten an der Startlinie. Es sollte ein Rennen werden, daß noch abenteuerlicher als seine Anreise verlief. Vor vielen begeisterten Zuschauern ging der Hamburger die Strecke gemächlich an, auf der man nach heutigen Maßstäben höchstens noch Querfeldeinrennen veranstalten würde. Goedrich wollte Kraft sparen und sich die Strecke gut einteilen. Seine Hauptkonkurrenten, der Grieche Konstantinidis und der Engländer Battel, machten das Tempo. Beide kamen vor Goedrich am Umkehrpunkt in Marathon an. Im zweiten Teil des Rennens stellte sich jedoch heraus, daß Taktik nicht der entscheidende Faktor werden sollte: Die Stabilität der Fahrräder war viel wichtiger, zumal auf der holprigen Strecke.

Als erster mußte Konstantinidis Bekanntschaft mit dem Boden machen, als sein Rad unter ihm zusammenbrach. Das kostete ihn seine Führung, obwohl er mit dem Fahrrad seines Tempomachers weiterfahren konnte. Der Brite Battel setzte sich statt dessen an die Spitze des Feldes. Doch es erging ihm nicht besser, denn kurz vor Athen stürzte auch er. Der Grieche holte ihn wieder ein und zog vorbei. Auch Goedrich nutzte die Malaise des Konkurrenten: Während Battel sein Gefährt reparierte, kam der Deutsche immer näher heran, bis er schließlich aufschloß und vorbei fuhr.

Jetzt lag nur noch Konstantinidis vor dem Norddeutschen. Aufgrund seines großen Vorsprungs hatte der Lokalmatador eigentlich nichts mehr zu befürchten, eigentlich: Der Grieche verlor ein zweites Mal die Kontrolle, ruinierte sein Fahrrad und verstauchte sich den Arm. Doch ein Zuschauer half mit einem Rad aus, so daß der favorisierte Grieche schließlich das Ziel zwar fahrend k.o., aber als Erster erreichte: Nach 3:22:31 Stunden und zwei verschlissenen Stahlrössern hatte Konstantinidis Gold geholt. Die einsetzende Massenhysterie dauerte noch an, als sich Goedrich 20 Minuten danach den zweiten Platz sicherte – vor dem gebeutelten Battel. Die drei übrigen Fahrer hatten schon lange vorher aufgegeben.

Ruhm brachte Goedrich dieser Erfolg nicht ein. Es ist nicht einmal erwiesen, ob er für seine Leistung überhaupt eine Silbermedaille erhielt. Schließlich war Goedrich kein offizieller Teilnehmer gewesen. In der deutschen Presse war nichts zu lesen, selbst die übrigen erfolgreichen Olympioniken wurden stiefväterlich behandelt.

Doch selbst in der deutschen Mannschaft war Goedrich unbekannt. Der Olympiateilnehmer Kurt Doerry, der über die Olympiade in Athen schrieb, widmete dem zweiten Platz des Hamburgers in der Fachzeitschrift Sport im Bild keine einzige Zeile. Lediglich das Verbandsorgan Der Deutsche Radfahrer erwähnte Goedrich, hielt ihn jedoch für einen in Griechenland lebenden Österreicher. Ein Unbekannter ist August Goedrich bis heute geblieben.

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