: Die ewige Jagd nach dem Nazi-Gespenst
Neue Geschichten über den ehemaligen Stellvertreter Hitlers: Martin Bormann, so wollen es Augenzeugen in Argentinien und Chile wissen, sei doch nicht 1945 in Berlin gestorben, sondern habe bis 1975 in Südamerika gelebt. Zweifel sind angebracht
Der uruguayische Paß mit der Nummer 9892 lautet auf den Namen Ricardo Bauer. Das Foto zeigt einen Martin Bormann der Nachkriegszeit mit Hemd und Sakko. Darüber sind die Fingerabdrücke des Paßinhabers. Die uruguayische Botschaft in Genua hat das Dokument am 3. Januar 1946 ausgestellt. Als Nationalität ist „italienisch“ eingetragen. Auf den hinteren Seiten sind mehrere Einreisestempel. Darunter Frankreich, Chile und Argentinien.
Vor zwei Wochen präsentierte im südargentinischen Bariloche ein Mann mit deutschem Akzent einer Lokalzeitung den Paß, mit dem Martin Bormann womöglich nach Argentinien gekommen sein könnte. „Bormann lebte in Chile auf einem Landsitz. Er verbrachte auch eine lange Zeit in Argentinien“, wird der Mann zitiert, der seinen Namen nicht nannte. Als General Juan Domingo Perón 1973 in Argentinien an die Macht zurückkehrte, soll sich auch Bormann definitiv am Rio de la Plata niedergelassen haben.
An den Paß sei der Mann nach dem Verkauf eines Grundstücks in Chile rangekommen. Bormann habe „den Paß zurückgelassen, weil er ihn dann nicht mehr brauchte“. Der zweithöchste Nazi soll in Argentinien im Jahr 1975 an einer Leberkrankheit gestorben sein. Derzeit wird der Paß in Jerusalem und im Simon-Wiesenthal-Zentrum in Los Angeles untersucht.
Aus dem uruguayischen Außenministerium wurde bisher keine offizielle Erklärung abgeben. Beamte ließen allerdings durchblicken, daß einige Botschafter des Landes in Europa mit den Nazis sympathisierten.
Schon lange halten sich in Argentinien Gerüchte, daß Bormann persönlich mit der peronistischen Führung verhandelt haben soll, Naziverbrecher wie Auschwitz-Arzt Josef Mengele, Adolf Eichmann, Josef Schwammberger und Erich Priebke aufzunehmen. Ähnliche Verhandlungen soll Bormann auch mit den Regierungen von Chile, Bolivien und Paraguay geführt haben. Argentinien war ein populäres Fluchtziel deutscher Kriegsverbrecher. Schon vor Kriegsende hatten die Nazis tatsächlich einiges Kapital ins Land geschafft – Präsident Perón, selbst fasziniert von den Ideen des italienischen Faschismus, ließ die Naziflüchtlinge gern nachkommen. 60 Millionen Dollar soll Perón für diese Art der Fluchthilfe kassiert haben. Die argentinischen Behörden machten keine Probleme bei der Einwanderung. Im Gegenteil, einmal eingereist, wurden die Nazis auf der anderen Seite des Atlantiks sogar mit neuen Papieren ausgestattet. Außerdem konnten sie in Argentinien auf die Unterstützung vieler hier lebender Deutscher hoffen. In Argentinien gab es immerhin die weltweit viertstärkste NSDAP-Auslandsabteilung. Ingo Malcher, Buenos Aires
Die Nachrichten aus Argentinien über den angeblichen Martin Bormann alias Ricardo Bauer haben auch in Chile alte Gerüchte wieder aufgefrischt. Ein Landwirt aus Futrono, nur einen Condorflug von Bariloche entfernt auf der pazifischen Andenseite, steckte einer Lokalzeitung, er habe in den 50er Jahren mit einem gewissen Juan Keller Geschäfte gemacht, den er später auf Fotos als Bormann erkannt habe.
470 Hektar Wald und Weideland am Lago Ranco habe man zeitweise gemeinsam bewirtschaftet und sich bei anschließenden Gerichtshändeln in den Haaren gelegen. Die Herkunft des 1947 Eingewanderten sei immer im dunkeln geblieben; Bürgen bei der Paßbehörde unter seltsamen Umständen ums Leben gekommen. „Wenige Tage nachdem der Mossad Eichmann in Argentinien entführte, hat Keller hier alles stehen- und liegenlassen“, berichtet Alberto Guarda. Nach der Veröffentlichung meldeten sich weitere Zeugen, die von einem zweiten Landgut und einer chilenischen Bormann-Tochter wissen wollen. Ein Interview mit Eliana Keller, einer angeblichen Adoptivtochter Bormanns, bildete letzte Woche dann den bisherigen Höhepunkt des Medienrummels: Die heute 49jährige wies jeden Naziverdacht gegen den „zärtlichen Mann, der mir sechs Puppen schenkte“, zurück. Ihr verschwundener Adoptivvater habe „aus unbekannten Gründen 1960 dringend nach Deutschland zurückgemußt“ und sich bei späteren Nachforschungen „als ein Erich Steinhauer aus Berlin“ entpuppt, der schließlich in Israel (!) gestorben sei. Die Bormann-Geschichte sei von Expartner Guarda und einem weiteren Compagnon ausgeheckt worden, um leichter an Kellers Güter heranzukommen.
Tatsächlich berichtete die chilenische Zeitschrift Vea bereits in den 60er Jahren unter Berufung auf Kronzeugen Guarda über die vermutete Gleichung Keller=Bormann. Ermittlungen diverser Geheimdienste führten damals ins Nichts. Alles kalter Kaffee? Das Thema wäre längst ins mediale „Winterloch“ zurückgeplumpst, wenn sich nun nicht ein Notar zu erinnern glaubte, den in Argentinien aufgetauchten Bauer-Paß früher einmal im chilenischen Osorno gesehen zu haben – und zwar völlig unabhängig von der mysteriösen Figur Keller ...
Fest steht nur: Auch Südchile war ein beliebter Unterschlupf für Nazis. Zwischen Bariloche und Osorno pendelt noch heute Reinhard Koops, ein mutmaßlich Beteiligter an „Säuberungsaktionen“ in Albanien. Seit kurzem jedoch fühlt sich Koops bedroht. 1994 brachte er mit den Worten „Wollen Sie mal einen echten SS-Führer sehen?“ eher zufällig ein ABC-Fersehteam auf die Spur von Erich Priebke. Seit dessen Auslieferung nach Italien, so beklagte letzte Woche der 83jährige aus dem Untergrund, erhalte er Morddrohungen. Thomas Nachtigall, Santiago
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