„Wie oft waren Sie auf dem Klo?“

Kontrolliert und fremdbestimmt: Neues Abrechnungssystem schafft den „gläsernen Behinderten“ / Verbände empfehlen Klage  ■ Von Patricia Faller

„Meinen Bürojob und mein Amt als Vertrauensmann der Schwerstbehinderten könnte ich ohne die 24-Stunden-Assistenz gar nicht ausüben. Es muß immer jemand bei mir sein, wenn ich etwas trinken will oder falls mich jemand im Büro besuchen kommt und ich mich ihm zuwenden möchte“: Clemens Reichow, Vorstandsmitglied der Landesarbeitsgemeinschaft für Behinderte Menschen, einer Vereinigung der Selbsthilfeverbände behinderter und chronisch kranker Menschen, sitzt im Rollstuhl und ist auf ständige Hilfe angewiesen. Auch nachts muß ein Helfer bei ihm in der Wohnung sein: „Ich kann doch nicht sagen, ich brauche um zwei und um vier Uhr Hilfe, weil ich vielleicht zur Toilette muß“, kritisiert er das neue Abrechnungssystem bei der Hilfe zur ambulanten Pflege und der Eingliederungshilfe.

Denn seit dem 1. Juli werden, wie bei der Pflegeversicherung auch, nur noch „Leistungsmodule“ berechnet. Bisher bezahlten die Sozialämter Hilfe nach Stundensätzen, jetzt wird der „gesamte Tagesablauf nach den Bedürfnissen des Pflegedienstes zerstückelt, kontrolliert, fremdbestimmt und auf das Notwendigste reduziert“, sagt Gerlef Gleiss, selbst Rollstuhlfahrer, von der Behindertenberatungsstelle Autonom Leben.

„Die 'Hilfestellung beim Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung' beinhaltet nur noch, daß man uns anzieht und vor die Türe stellt“, erzählt er. Begleitung zu Spaziergängen oder kulturellen Veranstaltungen sind damit ausgeschlossen. Ausschließlich die Begleitung zu Aktivitäten, bei denen „das persönliche Erscheinen erforderlich“ ist, kann abgerechnet werden, und das in der Regel nur dreimal im Monat. „Außerdem will man uns auf den famosen Fraß von ,Essen auf Rädern' verweisen“, beschwert sich Gerlef Gleiss.

Ist die ambulante Pflege teurer als 8.400 Mark im Monat – und das ist sie bei vielen Behinderten, denn eine Assistenz kostet zwischen 20.000 bis 30.000 Mark – sollen die Behinderten in Heime eingewiesen werden. Entziehen kann sich dem nur, wer Widerspruch beim Verwaltungsgericht einlegt, erklärte die Gesundheitsbehörde gestern. Das war aber auch die einzige Stellungnahme, die am Freitag nachmittag noch zu erhalten war.

Diese Regelung sei nicht mit dem Grundgesetz vereinbar, vermutet der Vorsitzende der Landesarbeitsgemeinschaft für Behinderte, Wolfgang Doege: „Ich kann doch niemanden zu einer Lebensform zwingen.“ Mit dem neuen Abrechnungsverfahren sehen die Behinderten die Förderung der Selbstbestimmung und der Selbständigkeit der pflegebedürftigen Menschen gefährdet.

Als menschenunwürdig empfindet Gleiss das Verfahren, weil es den „gläsernen Behinderten“ schafft: „Wir müssen dann auflisten, wie oft wir gebadet werden oder wie oft wir zur Toilette müssen.“ Den Betroffenen rät er, Widerspruch einzulegen und eine einstweilige Anordnung zu beantragen.

Informationen: Autonom Leben, Tel. 39 25 55