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Lahusen läßt grüßen

■ Die Delmenhorster „Nordwolle“ ist Industriedenkmal und Expo-Projekt: Wohnen, Arbeiten, Kultur – auf engem Raum / Heute Expo-Fest und Tag der offenen Tür

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arum Delmenhorst?“ fragt ein Sonderdruck der „Nordwolle Expo News“. Die 8-seitige PR-Broschüre, kürzlich dem „Delmenhorster Kreisblatt“ beigelegt, gibt die Antwort: „Wir lieben kurze Wege zur Sache“. Und: Aus Delmenhorst kommen „so bekannte Produkte und Marken wie Atlas Bagger, Könecke Wurst- und Fleischwaren sowie Heimfrost Tiefkühlkost“. Außerdem haben „Autos in Saudi-Arabien Nummernschilder“ aus Delmenhorst. Angesichts dieser wenig aufregenden Sachlage kommt der Stadt die Expo 2000 in Hannover gerade recht. Denn am 19. Januar wurde in der 80.000-Seelen-Stadt – im Volksmund „Delmendaddel“ genannt (Etymologie konnte im dortigen Rathaus nicht ermittelt werden) – die „Nordwolle“ als „dezentrales Expo-Projekt“ registriert.

Über 25 Hektar umfaßt das Gelände der ehemaligen Norddeutsche Wollkämmerei und Kammgarnspinnerei (NW & K), ein Konzern, der, gegründet 1884 von Martin Christian Leberecht Lahusen, in seiner Hochzeit 30.000 ArbeiterInnen beschäftigte. 1981 meldet die Firma Konkurs an, die verbliebenen 850 Beschäftigten verlieren ihren Arbeitsplatz. Ein Jahr später beginnen die Umgestaltungsarbeiten auf dem Gelände unweit vom Bahnhof. Zuvor war noch die Rede davon, das backsteinerne Industriedenkmal einfach niederzureißen. Denn was sollte werden aus den leerstehenden Fabrikhallen, dem Turbinen- und Kesselhaus, dem Wasserturm, dem Wollelager? Nur ein Teil der Fabrik kam als Denkmal in Betracht.

Dann fanden sich hochfliegende Konzepte. Was sich bis jetzt getan hat auf dem „Nordwolle“-Gelände, wird heute im Rahmen des Expo-Festes der Öffentlichkeit vorgestellt. Mittlerweile sind dort, wo früher Wolle sortiert und gefärbt wurde, 120-Quadratmeter-Wohnungen entstanden. Gebaut wurde mit denkmalschützerischen Auflagen eine Art Kasbah. Auf der Grundfläche der ehemaligen 250x200 Meter großen Shedhalle stehen jetzt, mit typischem sägezahnartigem Dach, Reihen- und Gartenhofhäuser.

Verkauf und Vermietung laufen gut, sagt Uwe Kiupel, Prokurist der Nordwolle Delmenhorst Projekt 2000 GmbH. Denn allmählich bessert sich das Image der „Stadt in der Stadt“, vom „bürgerlichen“ Delmenhorst bis heute durch einen Bahndamm getrennt. Einst ließ Fabrikherr Lahusen auf dem Gelände seiner paternalistischen Ader freien Lauf. Die Belegschaft – vor allem Frauen – sollte die NW & K im Laufe eines langen Arbeitslebens gar nicht verlassen brauchen: Säuglingsstation, Kinderheim, Krankenhaus, Konsumverein, Bäckerei, Wöchnerinnenasyl und Gastwirtschaften – alles da.

Heute haben sich die VHS, die Telekom, ein Technologiezentrum, das Stadtmuseum, Gastronomie, ein paar Ateliers und die Steucon AG, eine Immobiliengesellschaft, die die „Nordwolle“ verwaltet, hier eingerichtet. Am 6. September öffnet das „Fabrikmuseum“ seine Pforten. In der umfunktionierten langgestreckten Werkhalle, eine der wenigen, die nicht der Abrißbirne zum Opfer fielen, stellt Karl Waigand, Modellbauer und Restaurator, momentan die sogenannte gute alte Zeit nach. Liebevoll miniaturisierte Produktionsabläufe gibt es da, herausgeputzte Turbinen und Aggregate – und eine kleine „Peep-Show“. So nennt Waigand eine Holzwand, in die er in Abständen Gucklöcher gebohrt hat. Der neugierige Betrachter blickt auf historische Dias der Lahusens und großbürgerlichen Lebens. Die Szenerie symbolisiert den Zaun, den die Familie seinerzeit rund um ihre Villa am Rande der NW & K ziehen ließ – damit kein Arbeiter sah, was sich hinterm Zaun abspielte.

Außerdem dokumentiert das Museum die „Enklave“. So hieß bei den „Wolleanern“ jene ummauerte, stacheldrahtbewehrte Siedlung mitten auf dem Gelände, wo ausländische Zwangsarbeiter während des Krieges Dienst tun mußten. Die Baracken sind längst abgerissen, Birken wachsen auf der Enklave, ein paar verrottende Zementpfeiler schauen noch durchs Grün. Die Enklave ist Teil einer „Vorbehaltsfläche“, die bald bebaut werden soll. Und zwar mit multimediafähigen, vollvernetzten Wohneinheiten, wo – so die Vorstellung der Planer – vor allem „Freelancer“ aus dem Medienbereich wohnen und arbeiten sollen – Telearbeit nennt sich das.

Gleichzeitig soll das sogenannte Lager U, wo früher die Rohwolle gelagert wurde, zum Medienzentrum werden. Derzeit ist in den luftigen Hallen noch das katalogisierte Sammelsurium untergebracht, das Waigand für wechselnde Ausstellungen im Stadtmuseum zusammengetragen hat. Bis zum Oktober muß Waigand die Räume besenrein übergeben. Dann sollen hier digitale Video- und Audiostudios einziehen, Online-Redaktionen, Multimedia-Dienste. Die Telekom will die Nordwolle glasfaservernetzen und Angebote wie Telemedizin und Telelearning anbieten.

Produziert wird auf dem von einer wunderschönen Backsteinmauer eingefaßten Gelände nichts mehr – Dienstleistung ist alles. Doch manche Ideen des alten Lahusen sind aktuell geblieben. Zwar müssen sich die jetzigen Nordwolle-BewohnerInnen nicht mehr „die Förderung der guten christlichen Sitte angelegen sein lassen“, wie es die Fabrikordnung von 1892 vorsah. Doch die räumlich enge Verzahnung von Arbeiten, Wohnen, Bildungsangeboten und Geschäften, die viele Transporte überflüssig macht und qualitätvolles urbanes Leben verspricht, möchte man wiederbeleben.

Ob sich die Delmenhorster Mischung verwirklichen läßt, bleibt abzuwarten. Schließlich wollen alle Projekte auf der Nordwolle auch finanziert werden. Und da hält sich die Expo-Leitung bedeckt. „Wir haben noch kein herzliches Verhältnis“, deutet Uwe Kiupel die Spannungen mit Hannover an. Ein 100 Millionen-Projektetopf stand ursprünglich für die dezentralen Expo-Projekte bereit. Doch als die Delmenhorster 140 Millionen Mark für das Nordwolle-Projekt veranschlagten, zog sich Hannover zurück. Kiupel: „Die glaubten, wenn wir so eine Summe bewegen könnten, brauchten sie uns auch den Rest nicht zu finanzieren.“ Die Stadt zahlt bloß Zuschüsse. So hängt die Zukunft der Nordwolle vor allem von potenten Investoren ab. Die können sich heute und morgen vor Ort schon mal ein Bild machen. Zum Tag der offenen Tür sind nicht nur Fabrikhallen und Magazine, sondern auch Musterwohnungen zugänglich. Höhepunkt des Expo-Festes, das bis zum Jahre 2000 jährlich stattfinden soll, ist das Konzert der drei Gitarristen Al Di Meola, John McLaughlin und Paco De Lucia am Samstag um 20 Uhr.

Alexander Musik

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