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Die Tour sucht einen Boß

Vor dem Aufbruch ins Zentralmassiv und in die Pyrenäen ist die Tour de France dank Induráins Unterernährung spannend wie lange nicht mehr  ■ Von Matti Lieske

Berlin (taz) – Vor Beginn der 83. Tour de France hatte Jean Marie Leblanc, der Direktor des Rennens, am fünfmaligen Sieger Miguel Induráin nur einen Mangel entdeckt: „Er spricht kein Französisch.“ Einen zweiten, eigentlich allseits bekannten Defekt der Physiognomie des Spaniers hatte Leblanc vergessen: Induráin verträgt kein schlechtes Wetter. „König des Juli“, wird er daheim genannt, weil er vor allem dann zu Höchstleistungen fähig ist, wenn die Sonne vom Himmel brennt und der Schweiß in Strömen rinnt.

So war es kaum verwunderlich, daß das Sauwetter während der ersten Hälfte der Tour schaffte, was Gegnern und ausgeklügelten Streckenplänen in den letzten Jahren nicht gelungen war. In den Alpen erlitt der erfahrene Mann beim Aufstieg nach Les Arcs höchst profan einen sogenannten „Hungerast“ und verlor mehr als vier Minuten auf seine größten Rivalen. Solange es kalt und regnerisch war, nahm Induráin zuwenig Nahrung und Flüssigkeit zu sich, als es später aufklarte, trocknete sein Körper praktisch aus, wie bei einem Vampir, der es versäumt, vor Sonnenaufgang in seinen Sarg zurückzukehren. Am Schluß fiel er vor Durst und Schwäche fast vom Rad.

Der Motor sei in Ordnung, sagte Induráins Teamchef José Miguel Echávarri anschließend, seinem Mann sei bloß kurzzeitig das Benzin ausgegangen. Tatsächlich erholte sich der Spanier schnell, dennoch löste sein Absturz große Hoffnungen und erhebliche Verwirrung bei der Konkurrenz aus. Jahrelang waren die Spitzenfahrer gewöhnt, sich an Induráin zu orientieren, nun wissen sie nicht so recht, wen sie am meisten fürchten müssen und wer der neue Boß ist.

Einige glauben, daß es immer noch der alte sei, zumal bei der morgen beginnenden Fahrt durchs Zentralmassiv Temperaturen um die 30 Grad erwartet werden. Tony Rominger etwa hängt sich weiter konsequent an Induráins Hinterrad und ist davon überzeugt, daß er die Tour gewinnt, wenn er die dreieinhalb Minuten Vorsprung, die er vor dem Spanier hat, bis zur vorletzten Etappe, dem Zeitfahren von Bordeaux, behaupten kann.

Dabei kann der Schweizer auf die Hilfe seines Edeldomestiken Abraham Olano zurückgreifen, der für den 35jährigen jene Rolle spielt, die einst Induráin für Pedro Delgado innehatte. Obwohl der 26jährige Straßenweltmeister selbst Chancen auf den Toursieg hätte, stellt er sich ganz in den Dienst seines Mentors und kennt auch keine Dankbarkeit gegenüber Induráin, der ihm mit einem taktischen Manöver den WM-Sieg im letzten Jahr ermöglicht hatte. Als der Wohltäter vor Les Arcs seinen Schwächeanfall erlitt, war es Olano, der dies zuerst bemerkte und sofort das Tempo verschärfte.

Von den ursprünglichen Favoriten hat Laurent Jalabert am Dienstag aufgegeben und der sehschwache Alex Zülle durch seine vielen Stürze jede Menge Zeit eingebüßt. Den Russen Jewgeni Berzin nimmt keiner so recht ernst, weil er praktisch auf sich allein gestellt ist, bleibt Bjarne Riis, der 32jährige, der Dänemark schon vergangenes Jahr in einen Radsporttaumel versetzt hat. Damals wurde Riis Dritter, und er ist überzeugt, er hätte gewonnen, wenn sein Team von vornherein auf ihn statt auf Berzin gesetzt hätte und wenn es nicht die Bummeletappe nach dem Tod des Italieners Casartelli gegeben hätte. Genau da nämlich wollte er Induráin angreifen.

Bjarne Riis hat den Vorteil, daß er vor Selbstbewußtsein geradezu strotzt. „Ich weiß nicht, ob diese Tour einen Patron hat“, sagt sein ehemaliger Teamchef bei Ariostea, Giancarlo Ferretti, „aber Riis glaubt, daß er es ist.“ Einen Job in Induráins Banesto-Team hatte er souverän ausgeschlagen, weil er selbst die Tour gewinnen wollte. Statt dessen ging er zur Telekom- Mannschaft, welche mit dem Dänen zum komplettesten Team dieser Tour wurde, das bei fast jeder Etappe für Aufsehen sorgt. So auch am Dienstag beim 10. Tagesabschnitt von Turin nach Gap. Der Sprinter Erik Zabel holte vor dem gestrigen Ruhetag seinen zweiten Etappensieg und das grüne Trikot; Riis trägt weiter Gelb; Jan Ullrich beeindruckte, als er sich taktisch geschickt dem Ausreißversuch von Virenque und Ugrumow anschloß, am gelben Trikot schnupperte und damit die Leute von Rominger, Berzin und Induráin zwang, erheblich mehr Arbeit zu verrichten, als sie an diesem Tag vorgehabt hatten. „Die Telekom-Razzia geht weiter“, titelte L'Equipe und meinte mitnichten eine neue Tarifreform.

„Ich will das Trikot bis Paris verteidigen“, läßt Bjarne Riis keinen Zweifel an seinen Ambitionen, und der unglückliche Direktor des Once-Teams von Jalabert und Zülle, Manolo Saiz, drückt aus, was viele denken: „Die Sache entscheidet sich zwischen Riis und Induráin“. Spätestens wenn die Tour nach der Pyrenäen-Durchquerung an Induráins Haustür angekommen ist, muß er den Dänen wenigstens einmal abgeschüttelt haben. „Wenn wir mit dem aktuellen Abstand in Pamplona ankommen“, sagt Banestos Eusebio Unzúe, „ist nichts mehr zu machen.“

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