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Richtig Geld verdient wird nach der Arbeit

In Rußland werden Löhne oft monatelang nicht gezahlt, laut offiziellen Statistiken lebt ein Drittel der Bevölkerung unter dem Existenzminimum. Doch viele Menschen kommen trotzdem ganz gut über die Runden  ■ Aus Moskau Klaus-Helge Donath

Mit leidgeprüftem Blick steht er da, der kleine Witja. Neun Jahre ist er alt. Vor ihm auf dem Boden in der Einkaufszeile eines Moskauer Vororts liegt eine Mütze. In den Händen hält er ein DIN-A4- Blatt.“ Damen und Herren, Strom- und Wasserkosten haben sich auf das Dreifache verteuert, telefonieren wurde zehnmal teurer. Ich bitte um eine Spende. Wir müssen überleben!“ Die Orthographie entspricht nicht ganz der Norm, doch die Passanten lassen sich nicht lumpen. Selbst größere Scheine segeln in die Mütze. Witja bückt sich nach den Filetstücken, die sogleich in der Hosentasche verschwinden. Und zurück in die Ausgangspose: Mit Unschuldsmiene ran ans schlechte Gewissen.

Brot wird sich der pfiffige Bengel von seinen Tageseinnahmen nicht kaufen, eher ein neues Computerspiel. Denn seine Eltern sind weder arm noch sozial gefährdet. Allerdings ahnen sie nichts von der Geschäftstüchtigkeit ihres vielversprechenden Sprößlings.

Wie Witja gibt es Hunderte, wenn nicht Tausende Kinder und Jugendliche in Moskau, die Betteln zur stetigen Einnahmequelle gemacht haben. Wenige sind so gewievt, und wohl kaum ein zweiter ist mit der kollektiven Psyche derart vertraut wie der Neunjährige. Aus den ewigen Klagen der Erwachsenen, dem alles beherrschenden Thema „Geld“, ziehen sie ihre eigenen Schlüsse – mehr noch buchstäblich Kapital.

Was das Auge auf den Straßen der Hauptstadt als Zeichen der Verelendung wahrnimmt, deckt sich nicht ganz mit der Realität. Selbst die unzähligen älteren Schnorrer in der Metro, auf Bahnhöfen und in belebten Einkaufszentren gehören nicht zu den untersten Einkommensklassen. Sie sind gut organisiert und abgabenpflichtig, nach des Tages Müh' liefern sie ihren Zehnten beim „Einsatzleiter“ ab. Betteln ist weniger ein Indiz um sich greifender Verarmung denn Beleg eines fortschreitenden Sittenverfalls.

Dennoch gibt es Armut in Rußland. Im letzten Jahr stieg die Zahl der Bedürftigen deutlich an. Besonders hart betroffen sind Invaliden, Kranke, Rentner ohne Kinder, alleinerziehende Mütter und kinderreiche Familien. All jene, die direkt von staatlicher Unterstützung abhängig sind. Dazu stoßen die schlechtbezahlten Angestellten in Staatsdiensten, Lehrer, Ärzte, Wissenschaftler, Arbeiter nicht privatisierter Betriebe und der Landwirtschaft.

Oft sind sie noch doppelt gestraft, da die Indexierung – der Inflationsausgleich – viertel-, manchmal gar nur halbjährlich vorgenommen wird. Vorausgesetzt, sie erhalten ihr Salär überhaupt. Des öfteren warten sie monatelang, wie die Bergleute des sibirischen Kohlereviers Kusbass, die turnusmäßig in den Streik treten. Im dortigen Prokopjewsk, meldete das kommunistische Blatt Prawda, seien bei einer Routineuntersuchung eines Kindergartens gleich zwanzig Fälle von Pseudotuberkulose aufgetreten. Folgen mangelhafter Ernährung und fehlender medizinischer Betreuung.

Ähnliches gilt auch für die Randregion des hohen Nordens. Wer ihnen die Gelder jeweils vorenthält, läßt sich nur schwer ausmachen. Mal ist es das Zentrum, das die Inflationsrate zu drücken versucht, ein andermal sind es die meist „roten Direktoren“ der Gruben und Fabriken. Sie legen die Gelder erst einmal gewinnbringend an.

Die offizielle Arbeitslosenquote bewegt sich um die drei Prozent, die tatsächliche dürfte bei acht Prozent liegen. Für dieses Jahr sagen Arbeitsmarktler den Betrieben des militärisch-industriellen Komplexes (MIK) und der Schwerindustrie besonders harte Zeiten voraus. Vor allem minderqualifizierte Kräfte müssen mit Entlassung rechnen.

Im Fernen Osten, einem Ballungszentrum des MIK, sieht es heute schon düster aus. Sehr schlecht bestellt ist es auch um die Konsumgüter- und Textilindustrien. In Iwanowo, einer ehemaligen Textilhochburg, liegt die Produktion in den meisten Betrieben brach. Wen trifft die Schuld? Die ausbleibenden Investoren oder das unbewegliche Management, das sich seit jeher besser auf das Anzapfen von Subventionstöpfen denn auf Innovation versteht?

Jene Besitzstandsverwalter drängen zurück in die Umgebung des Präsidenten. Vizepremier Wladimir Kadannikow führte über ein Jahrzehnt den Autogiganten „Lada“. Schon damals versprach er Altpräsident Gorbatschow die Produktion eines neuen Modells, das bis heute nicht vom Band rollte. Nun kann er sein Versprechen freilich nicht mehr einlösen, dafür aber als Superminister der Volkswirtschaft die entscheidenden Impulse geben.

In Erhebungen der staatlichen Statistikbehörde, Goskomstat, klingt die soziale Entwicklung dramatisch. Im Februar 95 ermittelte sie, über ein Drittel der Bevölkerung müsse mit Einkommen unterhalb des Existenzminimums auskommen, das sind immerhin 50 Millionen Bürger; im September hatte sich das Bild schon leicht bereinigt: auf ein Fünftel. Die Vegetiergrenze fixierten die Behörden bei 255.000 Rubel (80 Mark). Dergleichen wirft Fragen auf. Den Russen werden seit Jahrhunderten Langmut und unerhörte Leidensfähigkeit nachgesagt, was sich, aus der Nähe besehen, so global nicht bestätigen läßt.

Hungert sich ein Volk, das soeben die Freiheit erkämpft hat, freiwillig zu Tode? Tritt gar nicht oder nur sporadisch in den Streik? Offenkundig leidet die statistische Erfassung an Unregelmäßigkeiten. Der gesamte Bereich der Schattenwirtschaft fließt nicht mit ein. Mittlerweile arbeitet die Hälfte der Berufstätigen in Zweit- und Drittjobs, deren Einnahmen sie dem Fiskus gegenüber verschweigen. In soziologischen Untersuchungen des Moskauer Indem-Instituts gaben lediglich 40 Prozent an, aus gesundheitlichen oder Qualifikationsgründen keine weitere Tätigkeit aufnehmen zu können.

Viele verfügten indes über Nebeneinkünfte weit über ihrem Lohn, die sie nicht in die Fragebögen eintrugen. Experten behaupten, Betriebe würden ihre Lohnleistungen bewußt untertreiben. Tatsächlich zahlen sie zwischen 30 und 100 Prozent mehr, als öffentlich deklariert wird. In einer anderen Studie stießen die Wissenschaftler auf ein merkwürdiges Phänomen: Ein Viertel der Befragten bezeichnete sich als arbeitslos, obwohl in Arbeit und Brot. Kurios, doch die eine Hälfte dieser „Arbeitslosen“ verdiente drei durchschnittliche Monatslöhne. Nur eben nicht am ehemaligen Arbeitsplatz: im staatlichen Sektor. Ein Relikt anerzogener Versorgungsmentalität schimmert durch. Wenn der ehemals paternalistische Staat nicht für alles geradesteht, ist er schlecht, während die neue Arbeit nicht zählt, weil man bei der alten nicht arbeiten mußte, nun aber wirklich Geld verdient. Ein Phänomen, das die verblassende Logik des Homo sovieticus unter marktwirtschaftlichen Bedingungen beschreibt.

Rußland hungert nicht. Die Hälfte aller Städter nennt eine Datscha und ein Stück Land ihr eigen, von dem sie sich selbst versorgen. Während die russische Führung nicht hauszuhalten versteht, dem einfachen Menschen hat es der Kommunismus beigebracht:

Nina Wassiljewna ist 71 Jahre alt. Seit siebzehn Jahren bezieht die ehemalige technische Zeichnerin Rente. Mit 210.000 Rubeln liegt sie unter dem amtlichen Existenzminimum. Die Moskauerin hat weder Kinder noch Garten, in den Genuß von Vergütungen für Arbeits- oder Kriegsveteranen kommt sie auch nicht. Trotz der bescheidenen Altersversorgung schon zu kommunistischen Zeiten suchte sie keinen anderen Zuverdienst, wie es viele Rentner handhaben. Sie verzichtet auf Delikatessen und leider auch auf die geliebten Pralinen. Nach Abzug der Unkosten für Wohnung, Energie und Telefon bleiben ihr 190.000 Rubel (62 Mark), die sie bis auf geringfügige Rücklagen für Lebensmittel ausgibt. Ihr Mittagessen besteht aus „drei Gängen“, einer Gemüsesuppe, Würstchen oder Spiegeleiern, Kaffee oder Kakao. Punkt fünf Uhr nach angelsächsischem Brauch gießt sie Tee auf und gönnt sich ein paar Kekse. Abends wird das Menü etwas deftiger, Spaghetti oder Makkaroni mit Soße, allerdings ohne Fleisch. Neue Kleider erlaubt ihr Budget nicht mehr. Dennoch ist Nina Wassiljewna guter Dinge. Zweimal besuchte sie im letzten Jahr ein Theater und die Tretjakow-Galerie.

Die 69jährige Nina Alexandrowna befindet sich in einer ähnlichen Lage. Sie gehört zu jenem Heer von älteren Frauen, die auf Märkten und an Metrostationen ihr kärgliches Sortiment feilbieten, selbst bei bitterer Kälte. Ein Zweifaches ihrer Rente springt dabei heraus. Kann sie sich Wünsche erfüllen? „Ich unterstütze meinen Sohn“, meint sie wie selbstverständlich. Der steht in seinen besten Jahren. Ein Fall eher für den Familiensoziologen als das Sozialministerium und doch ein weitverbreitetes Phänomen in Rußland. Die verkehrte Mutter-Sohn-Symbiose.

Der Familie Petrjakow in Nischni Nowgorod geht es relativ gut. Eigentlich müßte sie am Hungertuch nagen, denn mit ihren sechs Kindern fällt sie in die Kategorie der besonders Bedürftigen. Im Wohnzimmer steht indes nur das Beste vom Besten. Ein Sony-TV, ein entsprechender Videorecorder plus Kamera. In der Küche verzichtet die Hausfrau auf keine Annehmlichkeit eines gutausgestatteten westlichen Haushalts. Selbst die Mikrowelle ist schon da, integriert in den Elektroherd.

Was überrascht: Die sechs Kinder sind wie aus dem Ei gepellt. Olga Petrjakow arbeitet zur Zeit nicht, schaut nur nach den Kindern. Und ihr Mann Igor ist bei der Feuerwehr angestellt. Sein offizielles Gehalt beträgt 500.000 Rubel. Den gleichen Betrag erhalten die Petrjakows noch einmal als Kindergeld. Alles in allem ist das nicht genug, um große Sprünge machen zu können.

Dergleichen weckt Neid und Mißtrauen: Eines Tages stand der Steuerfahnder vor der Tür, der nicht glauben wollte, daß die Anschaffungen aus ehrlicher Arbeit stammten. Die Familie verlangte die Vorlage eines Durchsuchungsbefehls. Igor arbeitet in seiner Freizeit als Installateur technischer Geräte, seine Frau näht abends. Als Feuerwehrmann im öffentlichen Dienst ist ihm eigentlich jede Nebentätigkeit untersagt. Doch wie sechs Kinder mit 180 Mark aufziehen?

Eine der unzähligen Ungereimtheiten in der russischen Gesetzgebung, die Eigeninitiative nicht belohnt. Noch immer gilt: Wer seine Freizeit nicht versäuft, ist unnormal. Armut daher nicht selten ein frei gewähltes Schicksal. Jahrhundertelang prägte Sozialneid die sozialen Beziehungen. Hatte der Nachbar eine Kuh mehr, neidete man sie ihm; man stahl sie aber nicht, sondern tötete sie. Erst dann ließ sich ruhig schlafen. Die Gleichheit, die mit Gerechtigkeit verwechselt wird, war wiederhergestellt. Diese unproduktive Form des Neids weicht nur sehr langsam aus dem gesellschaftlichen Bewußtsein.

Zu Unzufriedenheit bieten die Verhältnisse in Rußland eine Menge Anlaß, Armut indes bleibt marginal. Auch die Kommunisten erkennen das, und so schüren sie ebenjenen Sozialneid, den sie für Armut ausgeben. Bei den Präsidentenwahlen ging diese Strategie nicht auf. Deutlicher als erwartet wurde Boris Jelzin im Amt des Staatschefs bestätigt. Witja jedenfalls hat das Wesen der Dinge früh erfaßt: Wer öffentlich leidet, kommt auch zu etwas.

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