Nordirland vom Frieden weit entfernt

Irlands Premierminister schimpft auf John Major, der reagiert beleidigt, alle verurteilen die Gewalt, und Sinn-Féin-Chef Gerry Adams meint, der Friedensprozeß liege in Scherben  ■ Aus Belfast Ralf Sotscheck

Eine Bombe in Enniskillen, ein Toter in Derry, Schüsse in Belfast, tausend Molotow-Cocktails und ebenso viele Plastikgeschosse in Nordirlands Städten – zur Bilanz der letzten Tage sind von britischen Politikern und nordirischer Polizei inzwischen die üblichen Verurteilungen „sinnloser Gewalt“ zu hören, der man „keineswegs nachgeben“ werde. Dabei hat man genau das am Donnerstag getan, als die Polizei der orangeistischen Parade die Straße in Portadown freiknüppelte und damit die schlimmsten Unruhen seit mehr als einem Jahrzehnt auslöste.

Dermot McShane starb am Samstag morgen. Der 35jährige Fabrikarbeiter war während einer Straßenschlacht in Derry von einem Armeetransporter über den Haufen gefahren worden. Nach der Gedenkfeier am Abend gingen die Kämpfe in Derry und anderen Städten gestern bis zum Morgengrauen weiter. In Belfast kam ein Polizeirevier unter Feuer, die Beamten schossen zurück. Verletzt wurde in diesem Fall niemand. Die Unruhen dehnten sich sogar bis Teneriffa aus: Auf der spanischen Insel kam es zwischen 300 britischen und irischen Touristen aufgrund der Ereignisse in Nordirland zu einer Massenkeilerei, bei der zahlreiche Läden zu Bruch gingen.

Die katholische Sozialdemokratische Partei (SDLP) hat sich am Samstag aus dem Nordirland-Forum, das Ende Mai gewählt worden war, zurückgezogen. Die Begründung: Es ist herausgekommen, daß die Polizei bereits am Mittwoch abend beschlossen hatte, den Drohungen des Orangeisten- Ordens nachzugeben und die Parade durch das katholische Viertel ziehen zu lassen. Man hat die obersten Vertreter der vier Hauptkirchen Nordirlands am Donnerstag lediglich als Ablenkungsmanöver benutzt: Während die Kirchenmänner mit den Anwohnern nach einem Kompromiß suchten und in der Gemeindehalle auf einen Vertreter des Orangeisten-Ordens warteten, riegelte die Polizei das Viertel ab. Der katholische Kardinal Cahal Daly sprach danach von „Verrat“ und einer „Kapitulation vor gesetzloser Gewalt“.

Auch der irische Premierminister John Bruton machte die britische Regierung ungewohnt deutlich für die Eskalation verantwortlich. „In einer Demokratie müssen Polizei und Regierung unparteiisch sowie konsequent sein und dürfen keinem Druck von außen nachgeben“, sagte er am Wochenende. „In allen drei Punkten haben die Ordnungskräfte und die Regierung in den vergangenen Tagen in Nordirland versagt.“ Englands Premier John Major reagierte beleidigt, zahlreiche Tory-Hinterbänkler wiesen Brutons Worte als „Einmischung in britische Angelegenheiten“ zurück, und Nordirlandminister Patrick Mayhew warf ihm „Unfairneß“ vor.

Mayhews politische Karriere neigt sich wohl ihrem Ende zu. Am Donnerstag abend schien es, als habe der Nordirlandminister den Verstand verloren. In einem Interview mit der BBC sagte er zum Reporter Peter Snow, der gerade auf die schlimmen Konsequenzen der Polizeientscheidung von Portadown hingewiesen hatte: „Jetzt seien Sie doch endlich mal fröhlich, um Himmels Willen!“

Mitte der Woche sollen die Mehrparteiengespräche in Belfast weitergehen. Der Präsident der IRA-nahen Sinn Féin, Gerry Adams, sagte, „der Friedensprozeß liegt in Scherben“, aber er forderte Major gleichzeitig auf, den Schaden zu reparieren.

Das ist nicht einfach. Wut und Mißtrauen gegenüber der britischen Regierung sitzen in der Republik Irland und bei Nordirlands Katholiken tiefer denn je. Der gestrige Kommentar in der konservativen irischen Sunday Tribune ist durchaus typisch für die Stimmung: „Vor ein paar Monaten sagte Gerry Adams, die IRA sei keineswegs verschwunden“, schreibt die Kolumnistin Brenda Power, „und wir alle verurteilten das als Dummheit. Doch für ein paar Stunden am Donnerstag abend betete ich zu Gott, daß Adams Recht haben möge.“

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