: „Die Zeit der Schlachtordnungen ist vorbei“
Ein aktualisiertes Kriegsdenkmal des Konzeptkünstlers Jochen Gerz für das südfranzösische Dorf Biron ■ Von Harald Fricke
In Biron wird der 14. Juli einen Tag früher gefeiert. Schließlich hat man dort schon am Vorabend des Sturms auf die Bastille seinen Fürsten enthauptet. So ist es zumindest in die Geschichte des Dorfes unweit von Bergerac an der Dordogne eingegangen. Und während man in Paris noch die Champs-Elysées herunter bis zum Place de la Concorde für die Truppenparade absperrt und ausstaffiert, tanzt die kleine Gemeinde in der Provinz bereits zu Akkordeon-Musik oder Elvis-Imitatoren. Dazu gibt es einen rasant in den Kopf schießenden Johannisbeerschnaps und Knoblauchsuppe – ein echtes Volksfest eben.
Dieses Jahr fiel die Revolution mit einem anderen Datum zusammen: Am vergangenen Samstag wurde das eben restaurierte Mahnmal für die Opfer der beiden Weltkriege eingeweiht. Elf Namen stehen auf einer schlicht im Grau der Wolken gehaltenen Marmorplatte, neun davon gefallene Soldaten und zwei Deportierte, die 1944 durch die Nazis verschleppt und ermordet wurden. Ihnen allen gilt dieser einfache, kaum zweieinhalb Meter hohe Obelisk aus gelbem Sandstein als „perpétuel souvenir“.
Daß es bei diesem immerwährenden Andenken bleibt, ist Teil der Arbeit von Jochen Gerz, der das 1921 errichtete Kriegsdenkmal als „Monument vivant de Biron“ umgestaltet hat. Der seit 1966 in Paris lebende deutsche Konzeptkünstler hat über die gesamte Anlage verteilt 127 Täfelchen anbringen lassen. Sie sind in dunklem Rot gehalten, wie aufgetrocknetes Blut und dabei doch dem Schutzanstrich der Fensterläden rund um den Platz sehr ähnlich. Auf jeder Plakette stehen drei, vier kurze Sätze zum Krieg und zur Geschichte geschrieben, ein Bündel aus Statements über das Leben und den Tod.
Ist das Opfer nicht mehr in Mode?
Gleich neben frischen Kränzen etwa kann man lesen, daß es möglich sein muß, „die Freiheit zu verteidigen. Und den dafür verlangten Preis zu bezahlen“. Dann aber bricht sich das formelhafte Bekenntnis an einem seltsam verschlungenen, nachgeschobenen Gedanken: „Die Freiheit ist heute Gegenstand von versteckteren Konflikten als früher. Die Zeit der Schlachtordnungen ist vorbei.“ Direkt über der Marmorinschrift findet sich der Eintrag: „le sacrifice n'est pas démodé.“ Auch dieser Satz bleibt irritierend: Wie kommt jemand auf die Idee, daß das Opfer nicht mehr in Mode sei?
Je länger man den Spuren nachgeht, um so paradoxer erscheinen einzelne Betrachtungen, die aus diesem Pool der oft schüchtern und schweren Herzens vorgetragenen Meinungen zurückspiegeln. Eine Frau erinnert sich an die unzähligen Tränen ihrer Großmutter, die sich über ihre toten Söhne im Ersten Weltkrieg fast besinnungslos weinte. Aus Angst habe die Tochter knapp 30 Jahre danach ihr eigenes Kind vor den anrückenden deutschen Soldaten versteckt. Zuletzt wiederum war es ausgerechnet der Bayer-Konzern, der ihrem nierenkranken Jungen noch half, bevor er starb. Wo liegt die Schuld? Der Kreis, zu dem sich die Geschichte zumal am Ort der Erinnerung mit jeder neuen Anrufung fügen möchte, er schließt sich nicht. Statt dessen wird man mit unmittelbarer Wucht aus jedem Staatsdenken herausgerissen: „Das Leben ist schön, wir haben es selbst gemacht. Es wäre zu einfach, es wegzugeben“; oder man wird auf Abwegen erst hineinbugsiert, wie es ein anderer sehr lakonisch formuliert hat: „Der Krieg, das ist das Elend, wir hatten erfrorene Zehen. Es gab Fortschritt seitdem.“
Selten schafft es die Kunst, sich derart ins Leben einzumischen. Was sich kollektiv als Erinnerungsarbeit vom Ersten Weltkrieg über die Résistance bis zum Massenmord in Bosnien oder der Furcht vor dem Islam hinzieht, wurde von Jochen Gerz über zwei Wochen aus zahllosen Interviews handschriftlich zusammengetragen. Für diese Zeit war er Chronist, Stadtschreiber und Medium in einer Person. Herausgekommen ist eine Art Wunderblock, dessen einzelne Schichten sich nun nicht mehr zudecken, Wünsche oder Ängste wurden gleichwertig festgehalten und übertragen. Tatsächlich entspricht das Textmonument der Summe aller Erfahrungen: Gerz hat sämtliche BewohnerInnen von Biron danach befragt, ob und wofür sie heute bereit wären, ihr Leben einzusetzen. Allerdings mußten StudentInnen aus Bordeaux vorher der Gemeinde auf sehr behutsame Weise klarmachen, warum ausgerechnet ein deutscher Künstler für ein französisches Mahnmal Franzosen nach dem Krieg gegen Deutschland befragt – vielleicht haben auch deshalb so viele geantwortet, daß sie die Deutschen nicht länger als eine Gefahr ansehen, „denn die machen keine Schwierigkeiten mehr“.
Trotz der doch eher vertrackten Ausgangsposition hat nur einer die Antwort verweigert, der Rest kann sich jetzt gegenseitig auf dem Dorfplatz lesen. Denn obwohl keine der 127 Tafeln namentlich gekennzeichnet ist, kennt sich die Gemeinde gut. Daß die Frage in der Präsentation von Gerz jedoch verborgen bleibt, macht aus der sonst auch bei Infas-Studien gängigen Praxis ein Konzept jenseits der Tätigkeit des Demographen: „Ich kann die Arbeit nur in die Zeit bringen, wenn die Frage intakt bleibt, indem sie sich nicht bekanntgibt.“ Sie ist eine Metapher für das Geheimnis, das von der Kunst ausgeht – Aufklärung, Infotainment und zugleich hermetisch wie ein Orakel oder die Sphinx zu sein. Es geht um eine Umwidmung, wenn nicht Zuspitzung dessen, was Kunst als öffentliches Forum von der Antike an im Leben verkörpern sollte. Gerz will damit auch zurück zu der Frage von Kunst nach Auschwitz, so wie er weiterhin gegen Adorno opponiert: „Seit 45 ist doch nicht keine, sondern vielmehr nur noch Kultur produziert worden.“
Geschichte als Autobiographie
Für ihn ist das Ergebnis ein Austausch über Werte, „die im Frieden säkularisiert sind“. Anders als bei seinen Arbeiten in Deutschland geht es um die Transparenz von Stimmen, um „eine Resonanz im Ohr“. Für Saarbrücken und Hamburg hatte Gerz die verdrängte Nazi-Vergangenheit mit der Abwesenheit des Mahnmals verdoppelt (s. Kasten). In Biron kehrt sich dieses Verhältnis um: „Die deutschen Arbeiten richten sich an das Modell: ,Was wir nicht gesehen haben, ist wahr‘, was stets mit dem Satz endet: ,Ich bin nicht dabeigewesen.‘ Hier in Frankreich richtet sich die Arbeit an einen Umgang mit Geschichte, die die Leute selbst gesehen haben. Die Franzosen blicken auf ihre Vergangenheit, als wären sie durch und durch mit ihr verwurzelt.“ Das spiegelt sich selbst in den Ähnlichkeiten der Aussagen in einer Sprache wieder, „wo autour und auteur schon fast gleich klingen“.
Gerz sieht seine Arbeit denn auch nicht als Symbol für die Verknüpfung der diversen Geschichtsbilder in einer ohnehin durch die Medien dahinflottierenden Gegenwart, sondern als deren Gebrauchsanweisung beim Bremsvorgang. Es ist ein Versuch, den Ort und die Zeit im Gedächtnis engzuführen, „ohne auf ein Objekt zurückzugreifen“. Statt dessen soll die Befragung in Zukunft mit den kommenden Generationen weitergetragen und entsprechend neue Tafeln angebracht werden, bis das historische Zeichen allmählich ganz von Information ummantelt ist: „Ich mußte bei der Finanzstelle Rechenschaft darüber ablegen, wieso noch so viele unbenutzte Schilder übriggeblieben sind. Die hatten an eine Zeitspanne von vielleicht sechs Monaten gedacht, in der das Projekt fortgeführt wird. Aber nicht an sechs Jahre oder mehr.“
„Monument vivant de Biron“ im Internet: http://www.farm.de/gerz
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