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Staatsbesuch unter ärztlicher Aufsicht

■ Jelzin empfängt US-Vize im Sanatorium. Der angeschlagene Präsident will mit den Tschetschenen „hart verhandeln“

Moskau (dpa/AFP) – Der russische Präsident Boris Jelzin hält trotz der Eskalation der Kämpfe in Tschetschenien an einer Friedenslösung fest, will aber gegen Rebellenangriffe weiter mit Härte vorgehen. Das sagte Jelzin US-Vizepräsident Al Gore bei einem Treffen nahe Moskau.

Die Hauptlinie der russischen Tschetschenien-Politik müßten Verhandlungen sein, sagte Jelzin nach Angaben seines Sprechers Sergej Medwedew im Gespräch mit Gore. Zugleich sei es aber notwendig, angemessen auf Rebellenangriffe zu reagieren und jegliche Provokationen zu unterdrücken. Die USA wünschten nach Angaben Gores eine Rückkehr der verfeindeten Seiten an den Verhandlungstisch.

Der russische Präsident hatte den US-Vizepräsidenten in einem Sanatorium in der Nähe von Moskau empfangen. Gore sagte anschließend nach Angaben der russischen Nachrichtenagentur Interfax, Jelzin sei seiner Einschätzung nach „in sehr guter Verfassung“. Das etwa einstündige Treffen fand nicht, wie urspünglich angekündigt, im Landsitz des Präsidenten in Barwicha statt, sondern in einem benachbarten Sanatorium. Dies wurde als Anzeichen dafür gewertet, daß Jelzin unter ärztlicher Aufsicht bleiben muß.

Unterdessen trat die Bildung der neuen russischen Regierung offenbar in die entscheidende Phase. Präsident Boris Jelzin und Ministerpräsident Viktor Tschernomyrdin berieten gestern erstmals über die Zusammensetzung des neuen Kabinetts. Namen nannte Kremlsprecher Sergej Medwedew jedoch nicht.

Der kommunistische Parlamentsvorsitzende Gennadi Selesnjow kritisierte die Entscheidung Jelzins, den erklärten Reformer Anatoli Tschubais zum Stabschef des Kremls zu machen. Tschubais könnte sich in die Regierungsarbeit einmischen, meinte Selesnjow. Jelzin hatte den Architekten der russischen Privatisierung am Vortag zu seinem Stabschef und Chefberater ernannt. Die Verwaltungschefs in den Regionen würden Probleme haben, mit Tschubais zusammenzuarbeiten, sagte Selesnjow. Tschubais solle sich offenbar um die bevorstehenden Kommunalwahlen kümmern.

Offenbar will Selesnjow aber keine neue Konfrontation zwischen dem Parlament und dem Präsidenten. Die Ernennung von Tschubais werde die Duma „nicht daran hindern, eine Kandidatur von Viktor Tschernomyrdin als Ministerpräsident zu bestätigen“, sagte er. Liberale Abgeordnete äußerten sich gestern zufrieden über die Ernennung von Tschubais. Dies sei eine demonstrative Änderung des Kurses von Jelzin, meinte die Abgeordnete Irina Chakamada.

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