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Animalisch, pflanzlich, brandig

Ein Schnellkurs in Weinprobe im französischen Bordeaux. Hart ist der Weg zum Hobbyönologen: Von der Trockenübung mit Spülmittelresten über die Riechprobe mit Aromafamilien bis zum Testtrunk mit Spucknäpfen  ■ Von Dorothea Hahn

Die Bitterkeit hält sich am längsten. Unerkannt passiert sie die Lippen, umspült die Zähne und befeuchtet den Gaumen. Erst in der dunklen Tiefe entfaltet sie ihre Wirkung. Pelzig breitet sie sich am hinteren Ende der Zunge aus und kriecht dann ganz langsam nach beiden Seiten weiter. Auch viele Minuten nachdem der Testtrunk Nummer vier längst mit Schwung im Spucknapf gelandet ist, sitzt sie immer noch im Mund fest und zieht die Schleimhäute zusammen.

„Das war reiner Gerbstoff“, sagt Lehrer François Despagne verschmitzt, „Tannin aus den Häuten der reifen Trauben des Bordeaux, gemischt mit Wasser.“ Der diplomierte Önologe (Weinwissenschaftler) und Berater mehrerer Weingüter im Médoc und Pomerol hatte je vier Weingläser auf unsere weißen Pulte gestellt und vier numerierte Flaschen mit unbekanntem Inhalt durch die Reihen gehen lassen. Wir hatten unsere Gläser vorschriftsgemäß zu einem Drittel aufgefüllt. Substanz eins, zwei und drei waren glasklar und durchsichtig. Substanz vier hatte die verführerische dachziegelrote Färbung reifen Weins. Glas vier war auf manchen Pulten bis zum oberen Rand voll.

Der Schnellkurs in Weinprobe hatte mit Trockenübungen begonnen. François Despagne hatte uns beigebracht, das richtige Glas auszuwählen – tulpenförmig, damit das Aroma konzentriert nach oben gelangt –, es auf Spülmittelreste zu untersuchen – hineinhauchen und riechen –, und es gekonnt zwischen „Bein“ und „Fuß“ zu balancieren – keinesfalls mit den Fingern den weingefüllten „Bauch“ verdecken. Wir hatten gelernt, daß der ideale Weinprobenraum gut beleuchtet ist. Daß die Unterlage für das Glas weiß ist. Daß Musik und andere Vibrationen ablenken. Daß Rauchen den Geschmackssinn verflacht. Und daß der beste Zeitpunkt der späte Vormittag ist, wenn das Frühstück verdaut und der Kopf noch klar ist.

„Man muß sich den Duft bildlich vorstellen“

Ein halbes Dutzend kleiner Flacons mit Duftstoffen war durch unsere Hände gegangen. Wir hatten die Nase daran gehalten und sie in die elf „Aromafamilien“ eingeordnet – von „animalisch“ über „brandig“ bis zu „pflanzlich“. Die sensibelsten Riecher hatten sogar die detaillierten Ursprungsdüfte ausgemacht: grüne Paprika, vermoderte Pilze und Feuerstein. Andere Schüler mußten nach vier Riechproben wegen Niesreiz aussetzen. So weit wie fortgeschrittene Önologen, die ihre Nase ins Weinglas halten und anschließend behaupten, den 7-Uhr-Bus an einem Wintermorgen mit Schnee gerochen zu haben, hatte sich keiner von uns Dilettanten vorgeschnüffelt. Lehrer Despagne fand das nicht tragisch: „Es kommt vor allem darauf an, sich den Duft bildlich vorzustellen.“

Jetzt knurrt uns der Magen. Vor Hunger und vor Lust auf Flüssiges. Was nach den süßen, sauren, alkoholischen und bitteren Testtrunks nun in unsere vier Gläser kommt, ist tatsächlich echter Wein. Doch trinken dürfen wir ihn nicht. „Sichtprüfung“, ordnet Lehrer Despagne an. Wir halten unsere Gläser in die Schräglage und begutachten Leuchtkraft, Transparenz und Farbe des Weins. Der orangene Schimmer um den ziegelroten Wein in Glas Nummer drei und seine Tränenspuren an der Glasinnenwand bringen den Diplomönologen ins Schwärmen: „Ein reifer Roter“, erklärt er, „seine Jugendkrise hat er hinter sich. Er kann mit Genuß getrunken werden und ist zugleich noch lagerfähig.“

„Erste Nase“, heißt es nun. Vorsichtig heben wir die Gläser vors Gesicht. Der Wein muß ganz still sein, damit wir eine erste Riechprüfung der flüchtigen Aromastoffe vornehmen können. Später werden wir ihn im Glas schwenken, um ihn zu lüften und mit einer „zweiten Nase“ erneut zu testen.

Die Aufforderung „Attaque!“ leitet am späten Vormittag den ersten Körperkontakt mit dem Wein ein. Ein Schlückchen nur fließt in den Mund und rollt langsam über die Zunge nach hinten. Wir „kauen den Wein durch“, schieben ihn hin und her und atmen dabei mit gespitzten Lippen ein. Anschließend stoßen wir die Luft aus der Nase aus und spucken den Wein in die Näpfe, die in unseren Pulten installiert sind.

Ein Wein mit 12 Codalien ist „superb“

Das intensive Aroma, das zwischen Mund und Nase zurückbleibt, ist ein weiterer Gradmesser für die Qualität des Weins. Kenner nennen es „Codalie“. Ein Wein, der es auf 12 „Codalien“ (12 Sekunden aromatischer Intensität) bringt, ist laut Lehrer Despagne „superb“. Der Gerbstoff, der mit den Jahren schwindet, trägt dazu ebenso bei, wie der Zuckergehalt der Trauben, die Regentage des Weinjahres und die mineralische Zusammensetzung des Bodens.

Fünf rote Weine haben wir verkostet. Wir haben Pampelmusen darin gerochen, grüne Bananen, Aprikosen, Pinienwälder und getrocknete Feigen. Unsere Spucknäpfe sind randvoll. Unsere Nasen können keine Gerüche mehr unterscheiden. Und da kommt einer jener schweren Weißweine aus dem Bordeaux ins Glas, den die Franzosen bei besonderen Anlässen zur Gänseleberpastete trinken.

Die Sanftheit ist sofort da. Süßlich passiert sie die Lippen. Samtig benetzt sie das Wangeninnere. Verführerisch umschmeichelt sie die Zungenspitze. Ihr goldenes Leuchten füllt den Mund aus. Ein paar Codalien hält das Erlebnis an. Dann bleibt nur die Erinnerung übrig.

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