: Schutzwälle für das fade Fleisch
Er malte Tatsachen, vertraute dem Instinkt und suchte in der Geschwindigkeit nach menschlichen Regungen: Das Pariser Centre Pompidou zeigt in einer Retrospektive das einzigartige Werk des 1992 im Alter von 83 Jahren verstorbenen Malers Francis Bacon ■ Von Harald Fricke
Vor dem Eingang hat das Centre Pompidou zwei Korridore eingerichtet: für Leute mit und ohne Karte. Genützt hat es wenig, trotz des Reißverschlußsystems stauen sich die Besucher der Pariser Francis-Bacon-Retrospektive in Schlangen gleichmäßig den Vorplatz hoch bis zum nächsten Häuserblock. Der Andrang hängt mit der Kultur der Franzosen zusammen: Hier hat das Museum einen ähnlich großen Stellenwert wie in Deutschland oder England etwa Fußball. Außerdem ist während des Sommers ohnehin in allen Stadien Spielpause.
Stillstand auch in den Sälen oben im fünften Stock. Auf einer durch Trennwände in Kabinette zerteilten Fläche von über 800 Quadratmetern sind 86 Gemälde ausgestellt; in einer schmalen Glasvitrine werden zusätzlich ein halbes Dutzend Arbeiten auf Papier gezeigt. Dabei ist die Bacon-Show durchaus bescheidener geraten als 30 Jahre Baselitz in der Berliner Nationalgalerie – und in ihrer Wirkung doch ganz anders. Ein Ereignis. Gleichzeitig vorgetragene Führungen auf französisch, italienisch oder englisch wären in Berlin nur schwer vorstellbar.
Leider wird man deshalb im vorderen Drittel unversehens stoßweise an den chronologisch gehängten kleinen Exponaten mit vorbeigeschleust, während die Besuchermasse erst zwischen den überdimensionalen Tafelbildern der sechziger Jahre ein wenig zur Ruhe kommt. Dort aber scheinen sich die Motive dann dutzendfach zu wiederholen: „Study of a human figure“, mal als Muskelspiel vor dem Spiegel, mal zermatscht als Kadaver auf dem Bett ausgebreitet, nackend am Strand oder vor dem Schreibtisch zusammengesackt. Bis einem die Variationen der gleich dickem Schiffstau gewundenen Körper aus rosa Hautfetzen und hellem Blut wie ein gotischer Totentanz in barockem Licht vor Augen flimmern. Mit der Zeit wandeln sich die Farben von Fleisch zu Flieder. Beides ist unerträglich, die klinisch sezierten Körper ebenso wie das dem Künstler im Alter sanft entgleitende Werk. Bei seiner letzten Ausstellung in der Pariser Galerie Lelong 1987 soll der 78jährige Bacon sich vom Anstrum der Fotografen in die Ecke drängen haben lassen wie ein verschüchtertes Tier. Er war seinen Bildern ähnlich.
Dem Erfolg als Maler stand der 1992 verstorbene Francis Bacon sein Leben lang skeptisch gegenüber: „Ich habe nie verstanden, daß Menschen Bilder von mir besitzen, weil sie sie mögen.“ Darin mag Eitelkeit oder Sarkasmus des Künstlers mitklingen, der sehr wohl weiß, daß gerade Kunst mehr durch den Markt bestimmt wird als von der Liebe zur Malerei. Tatsächlich aber ist Francis Bacon neben Picasso der einzige Klassiker, der sich im Kanon der Nachkriegs- Moderne im Alleingang durchsetzen konnte. Rothko, Pollock, Barnett Newman und De Kooning brauchten die Emanzipation der Amerikaner von Europa für den „Triumph of the New York School“; Gerhard Richter füllte als grauer Realist die Lücke zwischen Ost und West; und Andy Warhol malte einfach Pop. Bacons Werk jedoch scheint nirgends zuordenbar, und so schweifen die Interpretationen zwischen surrealer Magie, phantastischem Realismus, Philosophie der gescheiterten Existenz oder Leidensgeschichte des Fleisches hin und her. Selbst Gilles Deleuze klingt in seiner Analyse über die „Logik der Sensation“ recht universalistisch, wenn er über Bacon schreibt, er habe „den Ort aller Kräfte“ ins Bild gesetzt, um „die Zeit sichtbar zu machen“.
Auch das 370 Seiten umfassende Katalogmonument der Ausstellung im Centre Pompidou kommt nicht umhin, alle Mühen der Exegese mit einem knappen Statement von Bacon gleich vorneweg aus den Angeln zu heben: „Ich mache Bilder, und mit diesen Bildern versuche ich, Wirklichkeit festzuhalten. Die Schwierigkeit mit dem Realismus – zumindest dem, der mich interessiert – liegt darin, einen ursprünglichen Realismus zu vermeiden, der rein illustrativ bleibt. Nichts ist in der Kunst unerquicklicher als Illustration. Das gilt es zu vermeiden. Man muß die Wirklichkeit bündeln, um ein Maximum hineinzulegen.“
Zurück also zu den Phänomenen, deren Zuspitzung bei Bacon doch im Bild mündet: Körperstudien, Landschaften, ein paar Kreuzigungen und immer wieder Portraits. Das früheste Bild, „Interior of a Room“, ist Mitte der dreißiger Jahre entstanden und alles andere als spektakulär. Es zeigt einen verwinkelten, sorgsam mit Farben aufgefüllten Innenraum. Deutlich sind die Anstrengungen des 25jährigen Autodidakten zu erkennen, doch wenigstens in Details von den kubistischen und surrealistischen Vorgaben abzuweichen, die er 1926 als Jugendlicher auf Reisen nach Paris kennengelernt hatte. Nur blitzen selbst in dem schleierartigen grünen Geschöpf, das über den Vordergrund schwebt, die Kanten und Spuren eines Picasso oder Georges Braque auf. Dabei übersieht man leicht den verwischten Hund am Boden neben dem Bett, der hilflos seine Schnauze emporreckt. Auf halber Höhe ist der Hals vom Teppich durchtrennt – ein Schnitt durch den Körper, an den man sich später vor den ausgeweideten Männerakten und abgerissenen Schädeln um so nachdrücklicher erinnern wird.
Zunächst aber verhält es sich bei der ersten „Crucifixion“ von 1933 kaum anders. Man staunt über die wie ein Gespensterlaken ums Kreuz geschlungene Form, und dann fügt sich das Ganze doch bloß zu einer Adaption von Picassos „Badender“. Trotzdem hatte der Kritiker Herbert Read seinerzeit daran Gefallen gefunden und es in seiner Anthologie „Art Now“ aus dem selben Jahr neben das Original gesetzt. Wieder ist es eine kleine Irritation, die für den Rest des Rundgangs hängenbleibt. Bei Bacon steht der Gekreuzigte mit den Füßen merkwürdig elegant auf einem Podest, fast wie ein Modell beim Posieren im Atelier.
Zu dieser Zeit gilt Francis Bacon im Londoner Kunstbetrieb lediglich als Randerscheinung. Am 28. Oktober 1909 in Dublin als Sohn eines britischen Offiziers geboren, wird er mit 16 Jahren nach England verschickt. Der Vater habe seine Homosexualität nicht ertragen, sagt man. Trotzdem führt Bacon, der angeblich im Haus neben dem von Oscar Wilde zur Welt kam, kein dandyistisches Großstadtleben, sondern lernt erst mal bodenständig wie ein Katholik sein Handwerk als Tischler und Innenausstatter. 1930 werden einige von ihm entworfene Möbel sogar in der Zeitschrift „Studio“ exemplarisch für „british decoration“ im Chic der dreißiger Jahre abgebildet.
Die Tische, Hocker und Spiegel finden sich auf Bacons „Three Studies for Figures at the Base of a Crucifixion“ von 1944 wieder. Ansonsten gleicht das in giftigem Orange gehaltene Triptychon eher einem Horrorszenario: Grauenhafte Wesen zwischen verstümmeltem Mensch und gerupftem Huhn winden sich unter Schmerzen auf dem Mobiliar. Die Gliedmaßen sind verkümmert, die Körper unförmig angeschwollen und in stumpfem Grau übertüncht, als wäre ihr sprödes Äußeres aus getrocknetem Beton. Die Köpfe hängen an überdehnten Hälsen herunter und reißen dabei den Mund zu einem lachenden Schrei auf. Es ist wie eine Vorwegnahme aus Canettis „Masse und Macht“ – das Lachen als Atavismus des reflexartig um sich beißenden Raubtiers. Die Hölle scheint der Realität im vorletzten Kriegsjahr sehr nahe zu kommen.
Das Bild sollte laut Bacon wie ein Skandal einschlagen, fast alle Arbeiten, die vorher enstanden waren, hatte er bereits vernichtet. Zumindest bringt es ihn in Kontakt mit der Hanover Gallery, wo er 1946 das komplex mit Zeichen übersäte „Painting“ zeigt (zwei Jahre später wird es Alfred Barr für das New Yorker Museum of Modern Art kaufen und Bacon damit als ersten Nachkriegseuropäer in den USA durchsetzen). Unter einem Regenschirm sieht man eine männliche Figur, deren Kopf auf Augenhöhe abgetrennt ist. Wieder füllt allein dieses erstarrte „abscheuliche Lächeln“ (Deleuze) das Gesicht aus.
Der Mann trägt eine Blume im Knopfloch, die sich kaum vom gelben Judenstern der Nazis unterscheidet. Ringsumher nichts als abgeschlachtetes Fleisch – Ochsenhälften hängen nun aufgebahrt wie zuvor das Kruzifix im Hintergrund; Knochen und Beinstümpfe verteilen sich über den Rest des Bildes. Bei aller Grausamkeit wirkt „Painting“ kalt und berechnend, zu abgeschlossen ist die Situation, zu genau, beinahe teilnahmslos der Blick auf das Geschehen. Selbst auf Picassos „Guernica“ brannte noch eine Kerze für die Opfer. Hier dagegen wird eine Bühne wie im Zirkusring mit einer Art absichernder Reling vorgeführt. Sie allein ist es, die beide Seiten auf Distanz hält, so daß man nicht mehr weiß, wer in dieser Arena vor wem geschützt werden soll. Die Wirklichkeit des Betrachters und die des Betrachteten berühren sich nur noch an dieser Barriere, die vielleicht wesentlicher für die Bilder Bacons geworden ist als jedes andere Motiv. Fast alle Gemälde nach „Painting“ besitzen diesen manchmal nur schemenhaft angedeuteten Schutzwall. Danach sind die Glaskäfige und eingelegten Rinder von Damien Hirst bloß noch dekoratives Überbleibsel einer bei Bacon bereits vernichteten Natürlichkeit.
Das Rund, von dem auch Deleuze in seinem Essay so fasziniert ist, macht das Bild zum Schauplatz, an dem keinerlei Identifikation mehr funktioniert: „Tatsache ist..., was stattfindet...“ Ganz offenbar hat sich Bacon gegen das Mitleid und für die Gewalt entschieden, denn „wer wäre heute in der Lage, auch nur irgend etwas von dem in sich aufzunehmen, was uns ständig als Tatsache begegnet, ohne dem Bild eine tiefe Verwundung zuzufügen?“ Doch die Kunst ist für Bacon nur kurzfristig ein Therapiemittel für die Beschädigungen im Alltag. Zu schnell bewegt er sich mit dem dargestellten Elend seiner dahingeworfenen Kreaturen in Richtung Befreiungstheologie; zu sehr erinnern die an Velasquez' „Papst Innozenz X.“ orientierten Bildnisse oder auch „Man in a Blue Box“ (1949) an Gesten, „die einen Gott notwendig machen“, wie Rilke über Rodin schrieb. Das paßt jedoch kaum zur Londoner Schwulenszene oder den Hafenbars von Tanger, in denen Bacon verkehrt. Drei Jahre nach dem Erfolg von „Painting“, für das die amerikanische Kritik ihn zu einer Art Goya der Moderne stilisiert, verwandelt sich bei Bacon der Schrecken der Bilder ins Private. An Stelle der nahenden Apokalypse widmet er sich Bataille oder de Sade und malt Portraits.
Kaum ein anderer Künstler hat sein Personal so reduziert wie Bacon. Nicht bloß in der Darstellung, sondern schon bei der Auswahl: Neben Isabelle Rawsthorne (die auch für Alberto Giacometti Modell stand) sind es seit den fünfziger Jahren ausschließlich enge Freunde, Affären und Vertraute wie Lucien Freud, George Dyer oder später John Edwards. Die zahllosen Männerbekanntschaften dagegen finden sich auf den Bildern nicht wieder. Überhaupt scheint für den nachts von Club zu Club ziehenden Bacon die Anwesenheit eines Modells bei der Arbeit im Atelier problematisch gewesen zu sein. Ein Großteil der Gemälde entstand aus der Erinnerung oder nach fotografischen Vorlagen, die sich mit den Köpfen von Politikern und Filmstars zur Unkenntlichkeit vermischen konnten. Was immer der Maler seine Figuren auf der Leinwand anstellen ließ, es blieb diskret, ein delikates Refugium anonymer Ausschweifungen.
Sein Umgang mit dem einmal Material gewordenen Körper ist dafür um so rigoroser. Von den ersten Aktstudien an, die Bacon 1951 malt, bleiben seine Menschen stets vereinzelt auf der Leinwand gefangen. Ein Stuhl, ein Sofa, ein Bett – nichts soll von der Dynamik des Körpers ablenken. Die wenigen Ausnahmen wie „Zwei Figuren“, 1953, oder das liebevolle „Zwei Figuren im Gras“ im Jahr darauf zeigen unscharfe Szenen zwischen nackten Männern, auf denen man Fleisch, Gewalt und Ekstase nicht unterscheiden kann. Mehr und mehr drängt Bacon seine Geschöpfe im Zentrum der Bilder zusammen, lädt sie sexuell auf und läßt ihren Körpern doch keinen Halt: Die „Figur am Waschbecken“, 1976, scheint sich in den Ausguß zu stürzen. Auch auf dem „Triptychon Mai-Juni 1973“, kurz nach dem Selbstmord von George Dyer, der jahrelang Bacons Geliebter war, wirkt der verzweifelt niedergebeugte Akt doppelt entstellt: Er übergibt sich, während er rückwärts in die Leere des schwarzen Hintergrunds fällt.
Ansonsten überformt Bacon jede noch so zufällige Stellung des Körpers mit einer Akribie, bei der zuletzt die Bewegung immer stärker zur Übersetzung von technischen Bildern in Malerei gerät. Sein ungelenk kriechendes „Paralytic Child“ von 1961 geht auf Fotostudien zurück, mit denen Edward Muybridge 1887 die Bewegungsabläufe eines Hundes festgehalten hatte. Wieder wird das menschliche Wesen vom Tier abgelöst, indem Bacons es mit malerischem Instinkt fast mechanisch unter seiner zivilisatorischen Gestalt hervorholt. Was wie eine Kette schrecklich monströser Mißbildungen erscheint, ist am Ende das Zusammenspiel von Wahrnehmung und Geschwindigkeit, in der sich jede emotionale Regung erst als physische zeigt: „Man kann Bilder nur in der Art malen, wie Stenografen mit Wörtern umgehen: kompakte Zeichen anstatt ganzer Sätze. Allein durch die Arbeit entsteht das Bild. Ich kann nicht den Raum oder eine Situation zuerst aufbauen und dann die Figur. Ich gehe vom einen zum anderen, oder umgekehrt. Nur in dieser Vorwärts- und Rückwärtsbewegung zieht man Kraft aus allen Dingen. Aber die Leinwand entscheidet. Ich glaube, daß ich augenblicklich weiß, ob etwas bestehen bleiben kann oder ob ich es zerstöre“.
Bis 14. 10., Centre Pompidou, Katalog: 370 Francs
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