Bonn: Gefangene sollen wieder essen

■ Der Hungerstreik in der Türkei fordert ein drittes Opfer. Das Auswärtige Amt schiebt die Verantwortung den Häftlingen zu und fordert zur Nahrungsaufnahme auf. Mehrere Anschläge in Deutschland und der Schweiz

Bonn/Frankfurt/Istanbul/ (taz) – Der Hungerstreik politischer Gefangener in der Türkei hat gestern ein drittes Todesopfer gefordert. Der 35jährige Zahnarzt Ilginc Özkeskin, dem die Mitgliedschaft in der verbotenen Partei und Revolutionären Front für die Volksbefreiung (DHKP-C) vorgeworfen wird, starb im Sondergefängnis Bayrampasa in Istanbul. 50 weitere Hungerstreikende schweben in akuter Lebensgefahr. Versuche einer Zwangsernährung der Gefangenen sind inzwischen offenbar abgebrochen worden. Den Justizbeamten sei der Zutritt zu den Zellen verwehrt worden, hieß es.

Auch in Deutschland melden sich angesichts der dramatischen Lage der politischen Gefangenen in der Türkei immer mehr Stimmen zu Wort, die eine Intervention der Bundesregierung verlangen. Das Bonner Auswärtige Amt (AA) fühlt sich dafür jedoch keineswegs zuständig: Ein Sprecher bedauerte gestern zwar, daß es Todesopfer gebe, erklärte jedoch gleichzeitig: „Die Verantwortung liegt bei den Organisatoren und den Hungerstreikenden selbst.“ Die Streikleitung wolle Märtyrer schaffen. Es kann nicht Sache der deutschen Bundesregierung sein, sie dabei zu unterstützen.“ Statt dessen forderte das AA die Hungerstreikenden auf, ihre Aktion zu beenden und wieder zu essen.

Der Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion für Menschenrechte und humanitäre Hilfe, Rudolf Binding, forderte dagegen die Bundesregierung auf, darzulegen, mit welchen politischen Maßnahmen sie „bilateral und im europäischen Rahmen“ darauf hinwirken wolle, daß es in der Türkei zu einer menschenwürdigeren Behandlung von Inhaftierten sowie zu einer Verbesserung der Menschenrechtssituation komme. Die zentrale Forderung der hungerstreikenden Häftlinge, so Binding, müsse von allen zivilisierten Menschen und Staaten mitgetragen werden: Hafteinrichtungen so zu organisieren, daß dabei die Menschenwürde nicht gebrochen werde.

Auch Rechtsaußen Heinrich Lummer (CDU) ließ über seinen Pressesprecher mitteilen, „Kinkel muß aktiver werden“. Es gehe um die Rettung von Menschenleben. Die grüne Abgeordnete Angelika Beer sagte der taz, Kinkel müsse jetzt „bei Erbakan auf der Matte stehen“ und den türkischen Ministerpräsidenten direkt zur Beachtung der Menschenrechte und zur Schaffung humanitärer Haftbedingungen auffordern. Die Bundesregierung sei doppelt gefordert, sich vehement für die Einhaltung der Menschenrechte in der Türkei einzusetzen: Zahlreiche Gefängnisse, in denen hungerstreikende Häftlinge einsäßen, seien mit deutschem Know-how organisiert und mit Material aus Deutschland ausgestattet worden. Beer: „Die Zeit der offenen Briefe ist vorbei. Jetzt muß gehandelt werden.“ Auch ihre Parteigenossin Elisabeth Köhler wies im taz-Interview auf die besondere Verantwortung Deutschlands hin. Schließlich lebten sehr viele hier; außerdem sei Deutschland Waffenlieferant für die Türkei. Mit einem Brief wandte sich gestern ein „Dialogkreis“ von 140 Persönlichkeiten – organisiert vom Altlinken Andreas Buro – an die türkische Regierung. Darin werden humane Haftbedingungen verlangt. Mitunterzeichner: Oskar Lafontaine, Klaus Bednarz, Klaus Zwickel.

In Frankfurt besetzte ein „Solidaritätskomitee mit den politischen Gefangenen in der Türkei“ die Parteizentrale der SPD Hessen-Süd, um ihrer Forderung nach einer Verbesserung der Menschenrechte in der Türkei Ausdruck zu verleihen. Die SPD, so die Begründung, habe nichts unternommen und sich damit mitschuldig gemacht. In Kiel besetzten Türken und Kurden den Landtag. In mehreren Städten Deutschlands und der Schweiz wurden Anschläge auf türkische Einrichtungen verübt. In Stuttgart entstand bei einem Anschlag auf ein Möbelhaus ein Sachschaden von mehreren hunderttausend Mark.

Klaus-Peter Klingelschmitt, Bettina Gaus

Tagesthema Seite 3