■ Gestern startete in Deutschland Kirchs DF1-Kanal. Einige Gründe, warum die Industrie das digitale TV braucht: Dig it all
Das große mythische Bild der Medialisierung einer elenden Welt am Ende des zweiten Jahrtausends ist das der Ghettobewohner in den Metropolen, die vor laufenden Fernsehern verhungern und erfrieren. Fernsehen ist die allerbilligste, allgegenwärtige Droge am Ende des Industriezeitalters. Billig ist es, weil der Zugang zum Rohmaterial, zu Bilder (beinahe) jeder Art, so einfach ist. Funktional ist es, weil der Staat damit über ein Steuerungs- und Moderationsinstrument verfügt und die Wirtschaft über ein breitenstarkes, wenn auch wenig tiefenscharfes Werbemedium.
Die Geschichte des Mediums ist die Geschichte seiner eigenen Entwertung. Immer mehr Programme machen das einzelne Programm immer wertloser. Und auch die offene und versteckte Werbung wird dabei zwangsläufig inflationär. Immer mehr Werbung reduziert die Bedeutung der einzelnen Werbebotschaft und erhöht so die Notwendigkeit von noch mehr Werbung. Noch mehr Werbung aber entwertet auch ihr Umfeld. So ist das Publikum geneigt, das Programm gerade an seinem eigentlichen Ziel, der Werbung, zu verlassen. Daher müssen sich Werbung und Programm immer mehr verzahnen. So ist der Punkt, an dem dieses System kollabiert, absehbar. Die billige Droge macht niemanden mehr glücklich, auch die Dealer nicht.
Überdies hat sich der Markt signifikant verändert. Der Rohstoff hat sich nicht zuletzt durch den Raubbau des Mediums selber verknappt. Ein bedeutendes Bild zu konstruieren, wird immer schwieriger, weil der grenzenlose Hunger des Mediums in seinen zyklischen Verdauungsprozessen alles Abbildbare früher oder später in, Entschuldigung, Scheiße verwandelt. Wer also mehr oder weniger „echten“ Rohstoff liefern kann, arbeitet auf seine Verteuerung zu. Der moderne Verbrecher wußte vielleicht, wie man eine Überwachungskamera überlistet, der postmoderne Verbrecher weiß, daß er nirgendwo so viel erbeuten kann wie bei den Fernsehrechten an seiner Tat. Da ist es schon ein Glücksfall, wenn man mit ein paar dutzend Bierkästen eine Skinheadgruppe für die Bilder eines Angriffes auf ein Asylbewerberheim bezahlen kann; im allgemeinen wird das „sensationelle“ Bild (irgend etwas, das noch Gefühle auslösen kann: Sadismus, Ekel, Geilheit, zum Beispiel) immer teurer.
Es herrscht also, markttechnisch gesprochen, ein Mißverhältnis zwischen der Teuerung bei den Rohstoffen und der Billigkeit der Massendroge. Also muß Verknappung erreicht werden. Der DFB muß daher die Fußball-Fernsehrechte so teuer machen, daß sie auch der Endverbraucher nicht mehr umsonst bekommen kann. Damit man nun die Verteuerung des Rohstoffes an den Verbraucher weitergeben kann, müssen die Kanäle drastisch verändert werden. Das heißt: Weg mit den alten Kanälen. Wie wir wissen, arbeiten selbstlose christkonservative PolitikerInnen seit geraumer Zeit unauffällig, aber zäh an der Zerschlagung des öffentlich-rechtlichen Fernsehens in Deutschland. Zweitens müssen die technischen Voraussetzungen für Kanäle geschaffen werden, die nach Angebot und Nachfrage funktionieren. Das kommt nun mit dem ersten digitalen Fernsehen, Leo Kirchs DF1, auf den Markt.
Das neue Zeitalter für Media- Junkies beginnt mit bescheidenen 15 neuen Programmen. Für 20 Mark monatlich ist man dabei, wenn man sich für etwa 1.000 Mark auch ein d-box genanntes Zusatzgerät geleistet hat. Noch einmal zehn Mark muß man pro Monat für zwei Sportkanäle drauflegen. Die digitalen Programme sind spezifischer als die klassischen Kanäle; man muß, zum Beispiel, nicht mehr mühselig von Programm zu Programm switchen, um einen Nachmittag lang Soap operas zu gucken, sondern kann sich ganz dem digitalen „Herz & Co“-Kanal überlassen.
Bleibt das Publikum, das in den Zeiten von Arbeitslosigkeit als Normalfall zwar noch immer immens viele elektronisch bearbeitete Bildern verbraucht, aber weniger Geld hat. Einen Run auf die d-boxes wird es wohl kaum geben. Trotzdem wird die simple Rechnung der Konzerne, den Umbau des Medienmarktes zuungunsten der Endverbraucher von diesem selbst bezahlen zu lassen, schließlich gewiß aufgehen. So wird on the long run aus einem Konsumentenmarkt einen Anbietermarkt werden. Natürlich bekommen wir dann immer noch genau das zu sehen, was wir zu sehen verlangen und erwarten. Aber dann muß für diesen toten Kreislauf der Bilder bezahlt werden.
Einen zusätzlichen Anreiz für die Freaks unter der kleinbürgerlichen Konsum-Avantgarde bietet dabei das Angebot sogenannter interaktiver Gimmicks, zum Beispiel über die Auswahl von Kameraperspektiven bei einer Sportübertragung (und vermutlich auch beim unabdingbaren Porno-Kanal). Wie bei allen Schüben von neuen Medien bilden auch hier drei miteinander verwobene Anreize den Motor für die Umgestaltung des Marktes: die Aussicht auf ein „verbotenes“ Bild, der Prestigegewinn durch den Glanz der Hardware und den Gesprächsglamour der Software und die Illusion direkter Teilhabe am kommunikationstechnischen Fortschritt.
Dieser neue Schub des medientechnischen Fortschritts wird nicht mehr die gesamte Bevölkerung erreichen wie noch, sagen wir, der Videorecorder. Nur 38 Prozent der Deutschen wissen wie „Pay-TV“ funktioniert. Das wird so ziemlich dem Prozentsatz der User entsprechen. Was sich indes exklusivieren läßt, wird früher oder später auf das teure und bedeutende Drittel- Segment der Medien verlagert. Auf den Sport mag die Politik folgen, und die Aneignung der Exklusivrechte an den Bildern von Katastrophen, Morden und Bürgerkriegen liegt gewiß nicht in allzu weiter Ferne.
So wird das große mythische Bild der Medialisierung einer elenden Welt am Beginn des nächsten Jahrtausends den Menschen im Ghetto zeigen, dessen Fernseher immer noch läuft, während er zu verhungern und zu erfrieren droht. Aber er kann darin weder etwas von der Play-off-Runde im Basketball noch von den Riots in Watts sehen. Denn viele werden sich bedeutende Bilder nicht mehr leisten können. Georg Seeßlen
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