Initiation + Beschneidung

Teil 5: Freud und Leid mit der Beschneidung bei der Ethnie der Hanse-Politiker  ■ Von Silke Mertins taz-Serie: Die Stammesriten der Bürgerschaft

Erst durch die Beschneidung wird der Hanse-Politiker (Eigenbezeichnung: Bürgerschaftler) zum vollwertigen Stammesmitglied der Hamburger Bürgerschaft (Eigenbezeichnung). Obwohl die Beschneidung schmerzhaft sein kann, nimmt der Hanse-Initiant sie gerne hin. Denn nur wer selbst beschnitten ist, darf später andere beschneiden.

Die Beschneidung des werdenden Bürgerschaftlers will vorbereitet sein. Dazu trifft man sich in nach Sippen aufgeteilten Geheimbünden, die sich zum Beispiel „Övelgönner Kreis“ nennen. Hier wird nicht nur abgewogen, ob der Initiant sich eignet, die Reifeprüfung zu überstehen, sondern es sollen sogar Probebeschneidungen (Eigenbezeichnung: Abstimmungen) durchgeführt werden.

Ungewöhnlich bei den Hanse-Politikern: Die Initianten haben die biologische Adoleszenz bereits durchschritten; die kulturelle findet also nicht selten in einem relativ fortgeschrittenen Alter statt und wird dadurch schwieriger. Wie bereits berichtet, ist dieser Stamm zur direkten Fortpflanzung nicht in der Lage und muß seinen Nachwuchs aus anderen Ethnien rekrutieren (das sogenannte Kuckuckseiprinzip). Daher muß der Stamm den Initianten für die erlittene Beschneidung besonders attraktive Privilegien anbieten und die neuen Stammesmitglieder sehr sorgsam sozialisieren.

Die Beschneidung findet in verschiedenen Bereichen statt: Zunächst muß der Bürgerschaftler auf die in diesem Kulturkreis als so wichtig angesehene Anonymität verzichten (vgl.: „Ethnologische Grundlagen der Elb-Ethnien“). Schriftlich bekommt der Initiant von der Zeremonienmeisterin (Eigenbezeichnung: Bürgerschaftspräsidentin) die „Verhaltensregeln“ zugestellt und muß daraufhin seine materiellen Intimitäten offenlegen. Die Daten seines Lebenslaufs werden in einem Stammbuch (Eigenbezeichnung: Bürgerschaftshandbuch) veröffentlicht.

Des weiteren wird er in seinen beruflichen und privaten Aktivitäten beschnitten. Der Stamm duldet keine ausgeprägten Kontakte außerhalb der eigenen Gruppe. Die zeitliche Beschneidung des Hanse-Politikers gilt im interethnischen Vergleich als besonders ausgeprägt (ebenda). Die Bürgerschaftler werden zudem in ihrem Recht auf freie Meinungsäußerung beschnitten. So gilt es als schwere Regelverletzung, höherrangigen Clanmitgliedern bzw. der festgelegten Weltanschauung desselben öffentlich zu widersprechen (Eigenbezeichnung: Fraktionszwang).

Ist die Beschneidung einmal überstanden und der Initiant in die Bürgerschaft aufgenommen (Eigenbezeichnung: Konstituierende Sitzung), wird der Hanse-Politiker mit weitreichenden Privilegien entschädigt. Anders als andere Beschnittene darf er fortan nicht nur die eigenen Stammesmitglieder, sondern auch fremde Ethnien beschneiden. Dies tut der Bürgerschaftler gern in Form von Reglementierungen, aber auch kleinen Geschenken (Eigenbezeichnung für beides: Gesetze).

Es gilt als sicher, daß bei der Ethnie der Hanse-Politiker – genau wie bei anderen Stämmen – die Beschneidung und Initiation zur Kanalisierung umwälzlerischer Ambitionen von Jung-Mitgliedern dient. Jede kulturelle Gruppe versucht stets, den Veränderungswillen der nachrückenden Generation mit Ritualen und wohl dosierten Zugeständnissen an Privilegien zu bändigen und so den Status Quo zu erhalten.

In der Ethnologie herrscht Einigkeit, daß aufgrund der Relevanz der Hanse-Beschneidung für andere Ethnien wie auch wegen des wissenschaftlichen Erkenntnisinteresses dringend weitere Forschungsprogramme vonnöten sind. Auch eine museale Würdigung sollte m. E. erwogen werden: Zweifellos könnte ein Museum für angewandte Beschneidung die Perle der hanseatischen Museumslandschaft werden.

Am nächsten Sonnabend in Folge 6: Magie und Aberglaube