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■ Der Frieden währte nur kurz. Wieder läßt Moskau tschetschenische Dörfer zusammenbomben. Wer die Fäden in diesem Krieg zieht, ist unklar. Der Kaukasus scheint mehr und mehr zum Schlachtfeld für interne Machtkämpfe im Kreml zu werden.Ein G

Der Frieden währte nur kurz. Wieder läßt Moskau tschetschenische Dörfer zusammenbomben. Wer die Fäden in diesem Krieg zieht, ist unklar. Der Kaukasus scheint mehr und mehr zum Schlachtfeld für interne Machtkämpfe im Kreml zu werden.

Ein Genozid gegen das ganze Volk

Russische Gesandte unter Leitung des Nationalitätenministers Wjatscheslaw Michailow flogen am Wochenende in das tschetschenische Krisengebiet. Angeblich, um die Umsetzung bestehender Vereinbarungen zu überprüfen. Wieder einmal bekundete die russische Seite Bereitschaft, mit den Separatisten Gespräche aufzunehmen. All das klingt zynisch angesichts einer Kriegsmaschinerie, die schlimmer wütet denn je.

Kaum sechs Tage waren nach den russischen Präsidentschaftswahlen vergangen, da fielen Kampfhubschrauber über die südtschetschenischen Orte Gechi und Mecheti her. Das russische Oberkommando fand eine einfache Erklärung dafür: Freischärler seien in Gechi gesichtet worden, im Nachbardorf hätte Separatistenführer Selimchan Jandarbijew sein Quartier aufgeschlagen. Wie im zwanzigmonatigen Gemetzel üblich, gibt sich die russische Seite nicht einmal Mühe, den Anschein von Glaubwürdigkeit zu erwecken.

Wie gewohnt legten Kampfflieger die Dörfer in Schutt und Asche. Die Freischärler kamen indes fast ohne Verluste davon, ebenso wie der Stab Jandarbijews, Nachfolger des im April angeblich getöteten Präsidenten Dschochar Dudajew. Auch das ein mittlerweile bekanntes Phänomen im kaukasischen Vernichtungsfeldzug. Militärische Ziele werden verfehlt, dafür wahllos zerstört, um die Bevölkerung in Angst und Schrecken zu versetzen. Die Begründung, Freischärler seien gesichtet worden, ist mehr als fadenscheinig. Nachdem im Mai beide Seiten einen Waffenstillstand unterzeichnet hatten, kehrten viele Kämpfer Dudajews in ihre Heimatdörfer zurück. General Nikolai Besborodow vom Verteidigungsausschuß der russischen Duma scheute sich nicht, das Vorgehen beim Namen zu nennen: „Wir verfolgen eine Politik des Genozids gegen das ganze Volk.“ Beobachter hatten dem Waffenstillstand von Anfang an keine Haltbarkeit vorausgesagt. Jelzin brauchte den Frieden zur Wiederwahl. Die Freischärler nutzten die Pause, um ihre Reihen aufzustocken.

Wer trägt nun die Verantwortung? Jelzin? Die Militärs vor Ort? Des öfteren handelten sie im Verlauf des Krieges nach eigenem Gutdünken. Der Präsident und Oberkommandierende hält sich zwecks Genesung im Moskauer Sanatorium Barwicha auf. Eine reizvolle Umgebung, ganze Schlösser hat sich die Generalität hier im Umland errichten lassen. Zur Zeit ist sie in einen Zweifrontenkrieg verwickelt, denn an der Heimatflanke muß sie sich gegen massivste Vorwürfe von Amtsmißbrauch und Korruption zur Wehr setzen.

Die Entwicklung in Tschetschenien wird dem Präsidenten nicht entgehen. Doch weder rechtfertigte er das Vorgehen der Militärs, noch pfiff er sie zurück. Verfolgt er womöglich ein anderes Ziel, das mit Tschetschenien in keinem unmittelbaren Zusammenhang steht? Die Öffentlichkeit hatte eine Wende erwartet, nachdem Jelzin General Alexander Lebed zu seinem Sicherheitsberater ernannte. Kaum hatte der Law-and- order-Advokat sein Amt angetreten, rollten Köpfe. Allesamt verschrien als Kriegstreiber. Hoffnungen auf Kursänderung waren gegenstandslos. Doch die eine Kriegspartei verließ den Kreml, um einer anderen Platz zu machen.

Den Wahlkampf führte Lebed zwar nicht unter pazifistischem Banner, doch plädierte er für Frieden, freie Wahlen und ein Referendum in Tschetschenien. Am Tag bevor die Kämpfe wieder aufflammten, befand sich der Kommandeur der russischen Truppen in Tschetschenien, General Tichomirow, in Moskau und konferierte mit Lebed. Tichomirow gilt als Hardliner, der den Friedensbemühungen von Anfang an feindlich gesinnt war. Der Sekretär des Sicherheitsrates verfügt nicht über die Kompetenz, derart weitreichende Befehle zu erteilen. Vielleicht signalisierte er inoffiziell seine Billigung und versprach die Angelegenheit beim Präsidenten zu vertreten? Seltsamerweise lehnte sich auch Premier Viktor Tschernomyrdin weit aus dem Fenster und gab den Freischärlern die Schuld an der Eskalation. Nichts zwang den Premier, sich so zu exponieren. All das deutet auf Machtkämpfe im Kreml hin.

Ohne mit der Wimper zu zucken, revidierte Lebed seine ehemalige Haltung. Was er früher gesagt habe? „Äußerungen eines Präsidentschaftskandidaten, jetzt bin ich ein offizieller Regierungsvertreter!“ Der neue Verteidigungsminister Igor Rodionow war noch nicht ernannt, als die Feindseligkeiten wieder ausbrachen. Lebed konnte seinen Wunschkandidaten bei Jelzin durchsetzen. Der Verteidigungsminister zählt sicher nicht zu den Protagonisten einer weichen Lösung, obwohl er vergangene Woche für den Abzug der regulären Armee bis zum 1. September plädierte. Spezialeinheiten des Innenministeriums sollten die Aufgabe statt dessen lösen. Diesmal traf ihn noch keine Schuld.

Sollte der glühende Patriot Lebed vergessen haben, was die einfachen Soldaten in Tschetschenien offen sagen? „Wir kämpfen nicht für Rußland, sondern um irgend jemandes Geld.“ Die Korruption auszumerzen, war er angetreten. Den Spuren abgeschriebener Waffenlieferungen und Kompensationszahlungen müßte er nachgehen, wollte er die Drahtzieher des Kriegs dingfest machen. Ist er nach einem Monat Amtszeit zum Komplizen geworden?

Bringt Moskau die Bevölkerung weiter gegen sich auf und versprengt die Widerständler in alle Richtungen, erschweren sich die Voraussetzungen, um überhaupt noch Verhandlungen zu führen. Zunehmend verlieren jene Tschetschenen an Einfluß, die den Waffenstillstand unterzeichneten. In den Augen ihrer Landsleute haben sie sich von Moskau hinters Licht führen lassen.

Unterdessen befaßt sich Boris Jelzin eher mit einer neuen Sitzordnung. Unter und um sich herum schafft er ein polyzentrisches Machtgebilde, dessen ambitionierte Vertreter um die Oberhand ringen. Reformer Anatoli Tschubais leitet die präsidiale Administration. Viktor Tschernomyrdin steht der Regierung vor, Lebed dem Sicherheitsrat. Obwohl Jelzin dessen Wunsch entsprach und Rodionow zum Verteidigungsminister ernannte, schmuggelte er dem Sekretär noch einen Sprengsatz in die Rocktasche. Parallel zum Sicherheits- schuf er einen Verteidigungsrat. Nur Rodionow ist mit von der Partie. Nicht lange, und die Presse fällt über Lebed her, der als Friedensapostel antrat und zum Brandstifter wurde. Doch was passiert mit Tschetschenien? Es blutet weiter für die Ränkespiele im Kreml. In absehbarer Zeit ändert sich daran nichts. Klaus-Helge Donath, Moskau

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