: Live-Schaltung zu Kommissar Zufall
Zwanzig Tage nach der Explosion eines TWA-Flugzeugs unweit von New York, die 230 Menschenleben forderte, treten die Ermittlungen auf der Stelle. Die berichterstattenden Journalisten auch ■ Aus New York Martin Knobbe
Warum trägt der FBI-Ermittler heute ein weißes Hemd? Im Saal des Sheraton Hotels in East Moriches auf Long Island (New York) wird es unruhig. Reporter zücken ihre Handys, Aufnahmegeräte werden in Startposition gebracht. Sollte die Nachricht kommen, daß definitiv eine Bombe den Absturz der TWA-Boeing 747 am 17. Juli verursacht hat, bei dem alle 230 Passagiere und Besatzungsmitglieder ums Leben kamen? Hat das lange Warten ein Ende?
Das Warten geht weiter. „Wir ziehen noch alle drei Möglichkeiten in Betracht“, teilt James Kallstrom, der New Yorker FBI-Direktor, wieder einmal mit: Eine Bombe, ein Materialfehler oder eine Rakete. „Aber wir kommen der Lösung um so näher, je mehr Teile wir finden“, antwortet er verärgert auf die Frage, ob man wohl jemals die Absturzursache herausfinden wird. Warum er heute ein weißes Hemd trägt, verrät James Kallstrom nicht.
Die tägliche Pressekonferenz ist zum Ritual geworden in der unendlichen Geschichte des mysteriösen Flugzeugabsturzes. Obwohl die Ermittlungen immer schleppender vorangehen, schaltet das Fernsehen noch immer live auf die Halbinsel, nur wenige Meilen von dem Ort entfernt, wo die Maschine in den Atlantik fiel. „Wir bleiben solange hier, bis das FBI die Sache zum Kriminalfall erklärt“, sagt der CNN-Reporter.
Die US-Medien haben die Ermittlung zum Ereignis gemacht. In den Mittelpunkt rücken dabei mangels Ergebnissen die Akteure. „Bob, Jim und Ed“ heißen die drei Fahnder von der Verkehrssicherheitsbehörde, dem FBI und der US-Navy. Kein Detail entgeht den Kameras. Warum reibt sich Robert „Bob“ Francis von der Verkehrssicherheit diesmal besonders oft die müden Augen? Warum sagt James „Jim“ Kallstrom heute fünfmal „Kein Kommentar“?
Die Akteure spielen mit. Einmal hat Robert Francis eine rote Tüte dabei. Darin ist Kuchen, den er von Bürgern als Anerkennung geschenkt bekommen hat. „Es gibt viele Leute, die unsere Arbeit honorieren.“ Es gibt aber auch Verlierer. Zum Beispiel den Gouverneur des Staates New York, George E. Pataki. Er hatte eine Woche nach dem Absturz verkündet, Taucher hätten Dutzende von Leichen am Ozeanboden gesehen. Zwei Tage später waren sie immer noch nicht geborgen. Seitdem sitzt der Gouverneur nur noch auf der Ersatzbank der Verlautbarer.
Der große Druck der Öffentlichkeit lähmt den Informationsfluß. „Wir sollten ein Schild mit der Aufschrift ,No comment‘ hier installieren“, scherzt Chefermittler Francis, nachdem der FBI-Kollege das zum drittenmal gesagt hat. „Hast du heute dem Präsidenten auch so geantwortet?“
Immer mehr Gerüchte brauen die Journalisten indes zusammen. Mal ist von islamistischen Terrorgruppen die Rede, mal von einer Bombenwarnung. Die Fahnder reagieren darauf immer distanzierter. „Ich habe zu diesem Thema nie Stellung genommen“, sagt „Rob“. „Da müßt Ihr Euch schon an Eure angeblichen Quellen wenden.“
Wie schnell die Medien das Ruder in die Hand nehmen, zeigt noch ein anderer Fall: Obwohl keine Indizien vorliegen, wird der 33jährige Wachmann Richard Jewell auf Titelseiten und in Nachrichtensendungen längst als Täter des Bombenanschlags in Atlanta vom vorletzten Samstag gehandelt. Das FBI wirkte an der Vorverurteilung des einstigen Polizisten eifrig mit. Unter großem Medienaufgebot inszenierten die Bundesbeamten seine Verhaftung. Die wichtigsten Sender waren live dabei. FBI-Sprecher gaben bereitwillig Auskunft. Nachbarn flüchteten vor den Medien aus ihren Wohnungen und plauderten noch in die Mikrophone hinein: „Daß er das war, hätte ich nie gedacht.“
Und so werden auch die Journalisten auf Long Island nicht müde, täglich um vier Uhr den Worten des Fahndertrios zu lauschen. Vielleicht ist diesmal die „bombige“ Nachricht dabei. Wenn nicht, erörtert man eben, warum „Bob“ seit drei Tagen dasselbe Hemd anhat.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen