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Mutter des Modern Dance

■ In der Komischen Oper zeigt die Martha Graham Dancecompany Stücke aus der Zeit, als Grahams Pathos noch Revolte war und der Fortschritt noch eine Alternative

Wer eines der letzten Gastspiele gesehen hat, die Martha Graham über 90jährig noch selbst begleitete, kennt das Ritual. In bodenlangem Kleid, Handschuhe bis zum Ellenbogen und die Augen schmetterlingsflügelgroß betont, nahm sie den Applaus entgegen. Da schien die Tänzerin zur zerbrechlichen Legende ihrer selbst geworden. Die Auftritte der dienstältesten Company der Moderne (gegründet 1926) wirkten in den letzten Jahrzehnten zunehmend wie der Blick in ein Ballettmuseum. Von „Revolte“ war nicht mehr viel zu spüren, so perfekt spiegelten die Tänzerinnen, die oft in langen Röcken und mit strengen Haarknoten nach dem Bild der Choreographin modelliert schienen, einen Bühnenkosmos wider, der auf sein Zentrum — Martha Graham — eingeschworen war.

Noch mit über 70 war sie selbst in die Rollen der Heroinen geschlüpft, die, von knapp bekleideten jungen Athleten umworben, Tragisches erlitten: Phädra, Klytemnästra, Medea. Die innere Wahrheit des Menschen, zu der Graham den Tanz einst aus seinen exotischen Maskeraden befreit hatte, war in einem ödipalen Drama erstarrt. Die Archaik der Bewegungen spülte die mythischen Stoffe in die Ewigkeit.

Die Psychologisierung und Symbolismen von Grahams Tanzlibretti waren einer Zeit entsprungen, als die Freudsche Entdeckung des Kampfplatzes Familie und die Archetypen Jungs mit dem Glauben an den Fortschritt zu konkurrieren begannen. Das Pathos, das Grahams Vokabular nach Jahrzehnten rasender Mütter angenommen hatte, ließ kaum noch ahnen, daß sie ihre Technik aus dem natürlichen Rhythmus des Körpers als eine lebensnahe Alternative zum klassischen Tanz entwickelt hatte. Virtuos vorgetragen wirkten die vom Solarplexus gesteuerten Spiralen, die gewinkelten Arme und Füße und die plötzlichen Kontradiktionen gegenüber den alltäglichen Körpersprachen und Empfindungen nicht weniger fremd und abstrakt als das Ballett.

Deshalb erscheint ein Gastspiel der New Yorker Graham Company an der Komischen Oper denn auch weniger experimentell, als die Veranstalter Tanz im August annoncieren. Doch mit der Rekonstruktion ihrer frühen Stücke soll die innovative Radikalität von Martha Graham wieder sichtbar werden. Mit einer Skulptur von Barlach wird ihr Solo „Lamentation“ (1930) verglichen, in dem sie eingenäht in ein madonnenhaftes Gewand eckig aus dem gespannten Faltenwurf herausstieß. Mit „Deep Song“, einer Anatomie der Angst, die sich kaum vom Boden zu lösen vermag, reagierte sie 1937 auf den Spanischen Bürgerkrieg.

Der „Satyric Festival Song“ gehört zu den als „woolen dances“ verspotteten Tänzen, da Graham in einem engen Wollkleid die Verschiebungen zwischen Hüfte und Schultern und die Atmung als Motor des Tanzes beobachten ließ. In „Cave of the Heart“ (1946) begegnet man schließlich ihrer in einem Drahtgewand gefangenen Medea wieder, einer Glanzrolle von Wut und Schmerz. Diese Soli wurden auch durch die Fotografien von Barbara Morgan, die Graham wie eine Skulptur aus dem Raum meißelte, zu Ikonen des Tanzes.

Der Rückblick legt auch die amerikanischen Wurzeln der 1991 gestorbenen Künstlerin frei. Während ihre Lehrer Ruth St. Denis und Ted Shwan Bewegungsmaterial unterschiedlichster kultureller und sozialer Herkunft gesammelt hatten, gelang es Graham, aus diesem Patchwork die neue Linie herauszufinden, die den Modern Dance als amerikanische Kunstform etablierte. Der Rückgriff auf die Antike entzog den Tanz den vergänglichen Künsten von Vaudeville und Revue, um ihn in den Olymp überzeitlicher Werke zu heben. Zugleich adelte Graham die Legenden Amerikas im Tanz, von indianischen Riten bis zur Erklärung der Menschenrechte. Damit übernahm sie selbst einen Part in den Mythen der Neuen Welt, in der nach den Siedlern die Künstler Neuland eroberten.

Als „puritanisch“ galt die Reduktion ihres Stils. Ihrem langjährigen Bühnenbildner Isamu Noguchi reichte 1935 ein Zaun und zwei Taue, um die Weite des Westens für „Frontier“ auf die Bühne zu bringen, dem Stenogramm des Lebens einer Pionierfrau. Zu einem Graham-Klassiker wurde „Appalachian Spring“ (1944), das für die Lobpreisung amerikanischer Tugenden Hochzeit in einem Dorf feiern ließ. Den Stoff, aus dem die Western sind, brachte sie in ein kunstbetontes, vom trivialen Vergnügen gereinigtes Format.

Zu ihren prominenten Schülern gehörten Twyla Tharp, Merce Cunningham, der die emotionale Expressivität zugunsten differenzierter Strukturen abstreifte, schließlich Madonna. Daß die auf die Bühne brachte, was die meisten Frauen verbergen, wußte die Übermutter des Tanzes zu würdigen. Grahams Erben brauchen die Tragödie nicht mehr, um die Kunstform Tanz voranzutreiben. Katrin Bettina Müller

Martha Graham Dancecompany: „Radical Graham“, morgen bis 13. 8., 20 Uhr, Komische Oper, Behrenstraße 55–57

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