: Der größte Kristall der Welt
In memoriam Jerry Garcia: Im Mai 1972 waren Grateful Dead bei ihrer ersten Europatournee auch in Deutschland zu Gast. Vor dem Konzert in München besuchten sie die psychedelischen Wunderkammern des Deutschen Museums ■ Von Rock Scully
RRRING!
DRRRRING! DRRRRING!
„Rock, bitte! Nur 'n Näschen, ich kann nicht mehr.“
Drrrring! Drrrring! Drrrring!
„Ich glaub' nicht, daß ich mit dem Flattermann spielen kann, Mann. Im Ernst.“
Drrrring! Drrrring! Drrrring!
„Rock, Alter, ist dir klar, daß bei dir seit 'ner Dreiviertelstunde besetzt ist? Sag mal, bis du noch 'n Weilchen da?“
Die große Dope-Reformation in London, bei der wir in einem gigantischen Feuer unseren Stoff verbrannt haben, ist gerade mal zwei Tage her. Das Komische daran ist, mittlerweile könnte sich jeder in den Hintern beißen dafür. Mein Hotelzimmer wird rasch zur Kulisse eines lausigen Stücks – einer Farce, in der einer nach dem anderen durch die Vordertür kommt, während der andere sich nach hinten hinaus verdrückt. Wird ein langer Nachmittag, wenn das so weitergeht. Wir haben noch nicht mal Mittag und bis zum Soundcheck um halb fünf nicht das Geringste zu tun.
Ich muß mir was einfallen lassen, um die Jungs von meinem Stoff abzulenken. Ich hab's... etwas Zerstreuung! Ein kleiner Ausflug vielleicht – nichts zu Anregendes oder Zeitraubendes. Puffs, Sauftouren und die Suche nach der hiesigen Dope-Scene fallen damit schon flach.
In München: Leben und Leben lassen
Ich blättere mein Päckchen von der Handelskammer durch: „Willkommen in München, Bayerns Weltstadt mit Herz. Das Motto unserer schönen Stadt, aus dem Lateinischen übersetzt: ,Leben und Leben lassen‘.“ Na, wer sagt's denn! Also, mal sehen... da wäre das Deutsche Jagd- und Fischereimuseum mit der größten Angelhakensammlung der Welt, eine landschaftlich reizvolle Flußfahrt die Isar hinunter, eine Führung durch Dachau (wohl kaum). Oder Europas ältestes Marionettentheater, das Prozellanmuseum, Schuhplatteln oder eine Tour durch die weltbekannten Bavaria-Studios (das „Hollywood des Nordens“). Nicht so ganz das, was mir vorschwebt. „Eine anregende Kletterpartie in den ungeheuren Kopf der Bavaria.“ Das klingt nun wirklich verlockend, aber... Ach ja! Da ist es! Unbedingt. Das Deutsche Museum. Alles, was je erfunden wurde! Brücken, Kanonen, Hubschrauber, eine funktionierende Wurstmaschine, maßstabsgetreue Streichholzrepliken von Reichstag und Kölner Dom und... „der Welt umfassendste Ausstellung pharmazeutischer Wunder“. Hier folgt, in aller Unschuld, eine Liste der Lieblingsdrogen von Garcia & Co.
Als Gruppe verfügen die Grateful Dead über einen hochentwickelten Sinn für Surreales aus der Industriekultur, und das da klingt ganz nach einem Denkmal für die wahnwitzige Gerätschaft an sich. Hier winkt ein Nachmittag voll Dada in Reinkultur! Garcia ist sofort dabei. Lesh würde sich lieber einen Benz mieten und die Weinschenken in der Gegend abklappern, was ich ihm mit einer Liste klassischer Wagen und antiker Musikinstrumente in der Sammlung des Museums ausreden kann. Kreutzmann und Hart sind für alles zu haben, und Weir ist wie der kleine Bruder – er will einfach immer und überall mit.
Das Deutsche Museum liegt vielleicht 20 Minuten von hier auf einer kleinen Insel der Isar. Es ist ein immenser Bau und enthält wirklich „alles, was je ein Deutscher geschaffen hat“ (einschließlich beider Weltkriege): Dampfwagen, Lokomotiven, U-Boote, das ägyptische Brückenprojekt, den Kanal in Marokko, Staudämme, Atomuhren, Elektrowaffen, Pfirsichentkerner, Maschinen zur Gummibandherstellung. Ein unglaublicher Kram! Unser Smithsonian, nur auf deutsch.
Der Laden ist irgendwie unheimlich, weitläufig und bedrückend wie Xanadu in „Citizen Kane“. Wir scheinen die einzigen Besucher zu sein, und unsere Schritte werden Echos, als wir die Eingangshalle durchqueren. „Wir treffen uns Punkt vier wieder hier am Mondstein. Okay?“
Lesh zieht mit Weir im Schlepptau davon, um sich den dreirädrigen Messerschmitt-Kabinenroller anzusehen, und in Nullkommanichts hat sich alles verlaufen. „SOUNDCHECK um halb fünf!“ schreie ich, und meine Stimme echot-ot-ot-ot durch die Marmorhallen.
Ich spaziere herum, sehe mir dies und das an. Der Welt größte Sammlung leerer Bierflaschen. Eine funktionstüchtige Brauerei. Es gibt eine Abteilung, in der auf Knopfdruck eine Miniaturkohlengrube zum Leben erwacht und wacklige kleine Loren völlig sinnlos Kohlen ans Tageslicht ziehen. Oder eine Konservenfabrik, die zitternd und rumpelnd loslegt. Jeder Trottel mit einem Fließbandjob sieht so was Tag für Tag, aber es sind billige Kicks, und letztlich probiere ich alles aus. Kurz vor vier stehe ich am Mondstein. Kein Schwanz da. Um genau zu sein, außer einer weit auseinandergezogenen Schulklasse ist überhaupt niemand da, und als die geht, stellt sich eine unheilvolle Stille ein.
Wärter folgen uns auf Schritt und Tritt
In einer riesigen zeltartigen Konstruktion wie der Olympiahalle ist der Soundcheck alles. Die Instrumente sind aufeinander abzustimmen, Spannungsstöße zu checken und so weiter, ganz zu schweigen davon, daß die üblichen Beamten zu schmieren sind. Wir sind 20 Minuten vom Hotel, das Hotel 20 Minuten von der Olympiahalle, und die Band weiß noch nicht mal, in welcher Stadt sie ist.
Viertel nach vier. Noch immer keine Spur von den Jungs. Ich finde Phil Lesh bei den Postkarten und mache mich auf die Suche nach den anderen. Als ich mit Mickey Hart und Bill Kreutzmann zurückkomme, ist Lesh wieder weg. Ich stelle Hart und Kreutzmann neben dem Mondstein auf; sie sollen sich nicht vom Fleck rühren, bis ich wieder da bin. Auf Schritt und Tritt folgen uns Wärter. Schließlich stöbere ich Phil Lesh und Bobby Weir bei den Oldtimern auf. Mickey Hart klopft am Mondstein mit zwei Kugelschreibern einen Samba, Kreutzmann ist wieder auf Wanderschaft. Er taucht schließlich draußen auf, ausgesprochen zufrieden mit sich, weil er die Leutchen vom Andenkenstand angeschmiert hat. Das Museum schließt jeden Augenblick. Ich habe sie alle beisammen außer Garcia. Wie sich herausstellt, hat ihn den ganzen Nachmittag keiner gesehen. Die anderen schlagen vor, auszuschwärmen. Das, soviel weiß ich, ist eine miserable Idee. Hier gibt es nur eines: die vier, die ich habe, in ein Taxi zu stecken. Was ich dann auch tue.
Das Museum ist am Schließen, die Lichter gehen aus. Ich schreie – GAR-CI-A! – in jeden Winkel des gottverlassenen Baus immer wieder. Er könnte überall sein. Und nach einer Weile merke ich, daß ich mich verlaufen habe. Wo, zum Teufel, bin ich? Ich lese ein Schild: Halle der Dampfmaschine. Abgesehen von den Wärtern – und dem vermißten Garcia, wie ich hoffe – bin ich der einzige hier.
Schließlich tritt mir ein Herr Wachtmeister in den Weg. Kalte, chlorblaue Augen, als hätte man ihm zwei Löcher in den Schädel gebohrt. Ich erkläre ihm, daß Jerry Garcia – Sie haben noch nie von den Grateful Dead gehört? Na jedenfalls geht Jerry Garcia ab, und ich muß ihn finden, weil sonst Aufruhr und Staatskrise drohen. Sehen Sie, wir kommen schon zu spät zum Soundcheck, Mann und... ach, vergessen Sie's.
„Sehr is no wann left in se museum. Absolutely. All Wärters are starting from back of se museum to se front, starting at die Kriegsbaukunsthalle, and...“
„Ja, ja, ja. Hören Sie, er ist hier irgendwo, und nichts für ungut, Mann, aber ich geh hier nicht weg, bis ich ihn habe!“
„Sie haben genau zehn Minuten, dann gehen Sie, mit oder ohne Señor Barcia, verstanden?“
Ich laufe die Gänge lang. Durch die Halle der Seespinnen. Großer Gott! Was ist das hier bloß? Ein Labyrinth aus Korridoren, Nischen und Innenhöfen, die in immer neue Flügel führen. Der Laden hat 15 Kilometer Korridor. Hallen, vollgestopft mit den irrsten Maschinen.
Der arme Garcia – dieses ungeheure Gruselkabinett hat ihn verschluckt! Er könnte überall sein. Womöglich haben ihn die Wärter mit einem Ausstellungsstück verwechselt. Im Handbuch für Roadies steht über so einen Fall natürlich kein Wort. Vielleicht ist er bei den großen Maschinen... oder den Musikinstrumenten! Den Klavieren, den Bösendorfern, Bechsteins, Blüthnern, Steinways. Nein, großer Gott, bei den Instrumenten ist er auch nicht. Haben sie hier eine Waffensammlung? Er steht auf Walther-Pistolen. Dann geht es durch die Luftfahrt – Stuka, Fokker, V-1. Maschinen, Brücken, Schiffe, Autos. Dann fällt mir der Welt umfassendste Ausstellung pharmazeutischer Wunder ein.
Die Halle der Wundermedikamente ist riesig, eine irrwitzige Schau deutscher Pharmakologie. Morphium, Methamphetamin, Adolphin (ein nach Hitler benanntes synthetisches Heroin) und so weiter. Jede ausgestellte Droge mit einer vollständigen kleinen Biographie. Auf dem Schildchen neben dem Methamphetamin heißt es, daß man es im Zweiten Weltkrieg Stuka-Piloten gegeben hat und die Soldaten an der Ostfront es genommen haben, um wachzubleiben. Und daß es die Lieblingsdroge des Führers gewesen sei. Wir erfahren die verschiedenen Spitznamen: Kaffee-Ersatz, Blitzpulver etc.
Selig schaut Garcia in den Glaskasten
Und hier, endlich, ist er, der Große Barcia persönlich – vor einem Schaukasten mit einem seligen Ausdruck auf dem Gesicht. In dem Schaukasten befindet sich ein Brocken von einem Stein, eine Art von Kristallen überzogener Stalaktit, an die 40 Zentimeter groß. Garcia ist hingerissen, gebannt.
„Ej, Maaaan, guck dir mal den Oschi hier an. Mit so 'm Ding könntest du eine eigene Religion aufziehen.“
„Was ist das denn?“
„Was das ist, Mann? Reines Kokainhydrochlorid! Du stehst vor dem größten Kokskristall der Welt! Die Professoren haben ihn in einer riesigen konkaven Petrischale gezüchtet und aufbewahrt. Seit 1897! Hol die andren, Mann, das Ding müssen die sehen!“
„Jerry, die sind schon vor Stunden weg. Wir haben dich überall gesucht. Komm schon, Mann, nichts wie raus hier. Vielleicht schaffen wir's noch zum Soundcheck.“
* * *
Am Tag, an dem Jerry starb, tanzten Deadheads in Haight-Ashbury, die Wall Street machte vorzeitig zu, und Leute weinten ungeniert auf der Straße. Nachrichtensprecher, die seinen Tod mit dem von Lennon und Elvis verglichen, sagten, sein Dahinscheiden markiere das Ende einer Ära, dessen letztes großes Symbol er geworden sei. Jerry wäre eher perplex darüber gewesen, daß er das Symbol für irgend etwas sein sollte.
Es war sein inbrünstiger Glaube an den Gruppengeist, ja den Gruppenverstand, der den Dead diese spezielle Aura kollektiver Ekstase verlieh. Es war typisch für Jerrys Großzügigkeit, das alles so aussehen zu lassen, als besitze die ganze Band Qualitäten, die nur er allein hatte. Aber letzten Endes identifizierte er sich so absolut mit Grateful Dead, daß er schließlich in der Falle saß.
Auch wenn er noch so dagegen protestiert hätte, Jerry war Herz, Seele und Zauber der Grateful Dead, und das war letztlich einfach zuviel. Es wurde bereits zuviel für ihn, als ich die Band 1985 verließ. Zehn Jahre später hat es ihn umgebracht.
Jerry war Grateful Dead – nicht weil er der inoffizielle Bandleader war, sondern seiner Großmütigkeit wegen und seiner erstaunlichen Widerstandksraft. Wie schlimm auch immer er die Nacht zuvor versumpft sein mochte, tags darauf trat er mit einem völlig ungerechtfertigten Optimismus wieder an.
Grenzenlos begeistert in die Isolation
Jerry war von Natur aus von so unersättlicher Neugier, daß er im Handumdrehen eine neue Richtung einschlagen konnte, nur um zu sehen, was wohl passiert. Die ihm eigene Güte erstreckte sich praktisch auf jeden. So offen und verletzlich war er, daß ihn die, die in seinem besten Interesse zu handeln meinten, vor neuen Menschen und neuen Erfahrungen abzuschirmen begannen. Es war eine letzte Ironie des Schicksals, daß gerade seine grenzenlose Begeisterung zu seiner Isolation von allem und jedem führte. Er haßte den Ruhm, der ihn zu einer heiligen Monstrosität gemacht hatte.
Als ich vor zehn Jahren mit dem Heroin aufhörte, dachte ich, es wäre nur eine Frage der Zeit, bis auch Jerry damit Schluß machen würde, und als ich die mysteriösen Fotos von ihm sah, mit Taucherbrille beim Schnorcheln, umgeben von tropischen Fischen, da dachte ich: Ist er endlich in seinem Element. Hat er Keseys Rätsel gelöst und einen Weg gefunden, seine Halluzinationen ohne Drogen zu bewohnen. Es sei dies der neue Jerry, und so wäre denn alles endlich doch noch gut ausgegangen. Aber es sollte nicht sein. Es stimmt, Jerry hat immer wieder von seiner Sucht loszukommen versucht – und das noch im Augenblick seines Todes.
Meiner Ansicht nach waren Drogen für Jerry eine Methode, seine Widersprüche unter einen Hut zu bekommen: extrovertierter Einsiedler, naiver Hipster, ironischer Utopist, zurückhaltender Star. Seine Versuche, eine ganze Reihe von unvereinbaren Ideen in seinem Kopf zu vereinen, spiegelten sich in seinem Gitarrenspiel. Seine blitzschnellen Finger und das chronische Stapeln von Noten waren nichts anderes als der Versuch, alles zu integrieren. Der Funke war für ihn alles, der momentane geistige Austausch zwischen Band und Publikum, diese im Handumdrehen verschiedenste Gestalten annehmende Energie.
Der wahre Beatnik – voller Lampenfieber
Er war ein Kuriosum in der selbstverliebten Welt des Rock 'n' Roll: ein wahrer Beatnik, den sein Image nicht interessierte, ein schüchterner Leadsänger, ein Introvertierter mit so schlimmem Lampenfieber, daß er noch nicht einmal etwas essen konnte, bevor er auf die Bühne ging.
* * *
In Anbetracht der tanzenden Totensonntag-Skelette, die die Grateful Dead zwangsläufig verfolgen mußten, ist es merkwürdig, daß Jerry so abergläubisch war, was den Tod anging. Er sprach das Wort niemals aus, ließ sich auch nie vor Grabsteinen fotografieren, und wann immer Promoter die Band mit Friedhofsszenen bewarben, tat ihm das weh.
Als Pigpen starb, gingen Jerry und ich zusammen auf seine Beerdigung. So wie er da lag, in einem offenen Sarg in der Jeansjacke voll Pins und Buttons, sah Pig so gut aus wie seit langem nicht mehr. Jerry jedoch war entsetzt. „Laß sie das bloß nie mit mir machen“, sagte er, als wir uns vom Sarg entfernten. „Ich möchte, daß du mir nur zwei Dinge versprichst: Ich möchte nie im Hinterzimmer eines Plattenladens Platten signieren müssen – und begrabt mich nicht in einem offenen Sarg.“
In welches Paradies auch immer man ihn verbringt, ich hoffe, es hat Sonnenfische und Korallenriffs und daß sich in dieser alchimistischen Flüssigkeit all die paradoxen Elemente seines Wesens in etwas Merkwürdiges, Reiches verwandeln. Und, Jerry, falls du zuhörst, ich treff' dich beim Jubelfest. Ich wollte, du hättest nicht gepaßt, Mann, mit deinem Blatt hattest du einfach bessere Karten als wir.
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