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■ Das Urteil gegen den SS-Mann Erich Priebke rief weltweit Empörung hervor. Doch der Richterspruch war RechtensDer Sühnehunger will gestillt sein

Im Fall des Erich Priebke geht es um die Tötung von fünf überzähligen Personen. Hitler wünschte 330 Tote, versehentlich standen fünf mehr an der Wand. Wären Hitlers 330 statt Priebkes 335 Opfer erschossen worden, bestünden gegen das Massaker keinerlei Rechtsbedenken. Das zumindest ist die Auffassung eines britischen Gerichts im Mai 1947 gewesen, das in Venedig gegen den Feldmarschall Kesselring verhandelte, den Oberbefehlshaber der deutschen Streitkräfte in Italien. Dem schloß sich ein römisches Gericht an, das 1948 den Polizeichef von Rom, Kappler, vorlud; und so entschied auch, zum Entsetzen der Welt, Richter Quistelli jüngst gegen Priebke. Nur wurden Kesselring und Kappler zu lebenslanger Haft verurteilt, weil sie zwei Prozent mehr Blut vergossen als offenbar gestattet war. Priebke ist derselben Übertreibung schuldig, doch nun ist sie verjährt.

Schwer zu verstehen ist, warum die deutsche Wehrmacht, die ihren abtrünnigen Bündnispartner Italien okkupiert hielt, rechtmäßig Vergeltung gegen Partisanenanschläge üben durfte. Die Partisanen kämpften für Freiheit und Recht, die Deutschen für Knechtschaft und Willkür. Dennoch mußte die alliierte Seite deutsche Gefangene der Genfer Konvention getreu behandeln und durfte Hitlers Aggression nur in den Grenzen der Haager Landkriegsordnung zurückschlagen. Die Kriegsregeln gelten für Angreifer und Verteidiger gleichermaßen, das ist uralter, unangefochtener und sinnvoller Rechtsbrauch. Partisanen mögen tapfere Menschen sein, doch fechten sie unter der Maske des Zivilisten. Das ist der Vorteil. Zu ihrem Nachteil verlassen sie damit den Schutzraum des Kriegsrechts. Weil der Partisan als harmloser Zivilist operiert, war es den Militärs bis 1949 erlaubt, an unbeteiligten Zivilisten Vergeltung zu üben. Diese Abschreckung ist seit 1949 untersagt, wird aber etwa durch Deutschlands Freund Jelzin tagtäglich praktiziert. Die Ardeatinischen Höhlen liegen heute in Tschetschenien.

Über die Grenzen militärischer Vergeltung, die persönlich unschuldige Nonkombattanten im Weltkrieg für Regelverstöße ihrer Armeen hinnehmen mußten, gibt es kein verbindliches, geschriebenes Recht, nur Meinungen juristischer Autoritäten. Sie besagen, daß eine gewisse Verhältnismäßigkeit gewahrt bleiben müsse. Unverhältnismäßig war der Wehrmachtsbefehl auf dem Balkan, für jeden aus dem Hinterhalt erschossenen Soldaten 100 Serben oder Griechen abzuschlachten.

Verhältnismäßig hingegen war es, 300.000 Bürger von Hiroshima und Nagasaki einzuäschern, weil ihre Regierung sich weigerte, einen illegalen Angriffskrieg einzustellen. Die 8.000 Kinder unter 14 Jahren, die im Luftangriff auf Hamburg im Juni 1943 verbrannten, erduldeten ebenfalls Vergeltung für Hitler. Zusammen mit den übrigen 592.000 zivilen Bombentoten im Reich hätten sie ihn daran hindern sollen, einen verbrecherischen Angriffskrieg zu führen. Die drei Millionen vergewaltigter deutscher Frauen, die weit über eine Million teils drastisch gemetzelter Vertreibungstoten aus Ostpreußen, Schlesien, den Sudeten und dem Balkan hafteten auch für Naziverbrechen, die sie gewiß nicht allesamt unterstützt, gekannt oder gewünscht hatten.

Den Zweiten Weltkrieg überschwemmen Ströme repressalienhalber vergossenen Blutes materiell unbeteiligter Zivilpersonen. Es hat ein internationaler Auszug aus jahrhundertelang für beachtenswert gehaltener Schutzvorschriften stattgefunden. Dabei tut es nichts zur Sache, wer damit angefangen hat. Erstens haben die Hamburger Kinder mit nichts angefangen, sie sind schuldlos geendet. Zweitens sind diese Methoden nicht exklusiv auf dem Erzaggressor Hitler gemünzt gewesen, sonst wären sie mit ihm in den Orkus gefahren. Ganz ohne Hitler bekriegen sich seither die Völker mit Praktiken, die denen Priebkes entsprechen, ja sie weit hinter sich lassen. Ratko Mladić hat bei Srebenica zwanzigmal mehr Menschen ausrotten lassen, als es in den Ardeatinischen Höhlen geschah. Priebke ist überall.

Wie das Internationalen Rote Kreuz unlängst klagte, sind über 90 Prozent der gegenwärtigen Opfer militärischer Konflikte friedliche Zivilisten. Es kann nicht ganz abwegig sein, die Untat von 1944 auf dem Rechtsboden all jener Gemetzel zu betrachten, die ungestraft, ungerügt, ungeklärt geblieben sind und bleiben.

Der Zivilterror im Zweiten Weltkrieg ist eine heikle Rechtsmaterie. Nicht, daß die Gesetze fehlten! Nach einem internationalen Übereinkommen vom 26. November 1968 verjähren Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit nie. Nicht alle Staaten sind Unterzeichner, doch wer will, der kann. Augustino Quistelli wählte für die fünf Morde die mildeste Gesetzesvorschrift. Es sind auch Argumente erdenklich, die Auswahl von 75 Juden als anerkannt unverjährbare Beihilfe zum Völkermord zu werten. Dies wäre fraglos Recht, doch nach dem Urteil Richter Quistellis nicht recht und billig.

Dagegen bricht ein Weltpublikum in Radau aus. Die im richterlichen Ermessen liegende Milde scheint ihm unangebracht. Warum, da doch den meisten Kriegs- und Massenvernichtungsverbrechen nicht Milde, nein, Straflosigkeit widerfährt. Genau darum. Das allgemeine Rechtsgefühl empört sich über die nicht abreißende Kette niederträchtigster Staatsverbrecher, denen die gelähmte Völkergemeinschaft keine Sanktionen erteilt. Die Schergen mitinbegriffen. Milošević wird für den Friedensprozeß benötigt, Jelzin um Sjuganow zu verhindern, an Li Peng kommt keiner heran; kommt er zu Besuch, ist er immun.

Den Ajatollahs müssen in kritischem Dialog Exporte angedient werden, die Roten Khmer, die PDS, die PLO, die IRA, die Hutu wollen in die Verantwortung einbezogen sein. Wer bleibt übrig? Priebke. Keine Realpolitik immunisiert, keine Waffengewalt schützt, kein Staat amnestiert ihn. Er ist ein überflüssiger Greis; an ihm, Gerechtigkeit, nimm deinen Lauf. Gedanken, daß Recht nur sein kann, was für alle gilt, verschluckt der Sühnehunger. Dies eine Mal will er sich sättigen. Jörg Friedrich

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